„Wir stehen hier, in dem nach Rolf Liebermann benannten NDR-Studio, auf dem historischen Boden der alten Synagoge, eigentlich Tempel. Ich will nicht gesondert auf ihre Geschichte eingehen. Ich will nur daran erinnern, dass Hamburgs Juden, soweit sie nicht geflüchtet waren, bis auf Ausnahmen dem Holocaust zum Opfer fielen, etliche von ihnen in Auschwitz, das am 27. Januar 1945, also vor 57 Jahren, befreit wurde - die Verleihung des „BERTINI-PREISES“ ist bewusst auf dieses Datum gelegt worden

Nun müssen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts aber konstatieren: Die Macht, die diese größte Schädelstätte der Menschheitsgeschichte schuf, ist zwar militärisch geschlagen, aber geistig - oder besser: ungeistig - immer noch da. Einige, die das zu spüren bekamen, sind heute für ihren Mut ausgezeichnet worden, weil sie nach dem Motto des BERTINI-PREISES: "Lasst euch nicht einschüchtern!" gehandelt haben.

Es ist das erste Mal, dass er an junge Menschen verliehen wird, die durch die Gegenwart eines mit der Vergangenheit korrespondierenden Ungeistes Blessuren erlitten haben. Dass es dazu überhaupt kommen konnte, dass diese körperlichen und seelischen Verletzungen möglich wurden, ist eine absolut unerträgliche Situation, und das hoffentlich nicht nur für einen Mann mit meiner Biografie.

Ich erkläre von diesem Podium aus: Die Freiräume, die den Feinden der demokratischen Republik im Namen ihrer Freiheiten eingeräumt werden, sind nicht länger hinnehmbar. Dagegen haben die Legislative, die Exekutive, das ganze Spektrum der Sicherheitsorgane und die Zivilgesellschaft selbst nachdrücklicher anzutreten als bisher. Das ist vor allem eine Forderung an die Politiker, gleich welcher Couleur: Tut etwas gegen das rechte Gelichter und seine Hintermänner - wenn wir es können, dann ihr auch!

Der tätliche Angriff hat uns wieder zweierlei gelehrt: einmal, dass die Aufgabe bleibt - für Sie, für jeden von uns; dann aber auch, wie richtig eine bestimmte Warnung ist, die wir nicht müde werden dürfen zu wiederholen, nämlich: dass der brachiale Ungeist, gegen den wir hier aufstehen, sich keineswegs allein gegen Ausländer und Fremde, gegen Sinti, Roma, gegen Frauen, Behinderte und Juden richten würde, sondern, wenn er könnte, wie er wollte, gegen alle, die nicht nach der Pfeife deutscher Unbelehrbarkeit tanzen. Fühlen Sie sich also nicht geschützt oder immun, wenn Sie keiner der soeben zitierten und von rechts diskriminierten und attackierten Gruppen angehören - wir alle haben einen gemeinsamen Feind.

Und damit wir es nicht vergessen: Zu diesem Feind zählen auch die Mörder des 11. September von New York, Washington und Pennsylvania samt ihren Mittätern und Sympathisanten, eine neue Dimension des Bösen. Sie, liebe Schülerinnen und Schüler, werden sich mit ihnen und anderen Übeln wohl über eine längere Strecke noch auseinander setzen müssen. Nur: Lassen Sie sich Ihr Dasein von dieser Gegenwelt nicht verdüstern, lassen Sie das nicht zu, erlauben Sie es ihr nicht!

Ich will Ihnen dabei keine weisen Ratschläge erteilen, nur hier Ihnen sagen dürfen, womit ich die Molesten meines Lebens und Schlimmeres überdauert habe - nämlich durch das Beispiel meiner jüdischen Mutter, der historischen Ausgangsperson der Lea Bertini. Heute noch, mehr als 20 Jahre nach ihrem Tod, denke ich oft: Das konnte doch einfach nicht wahr sein, diese Fähigkeit von ihr, gute Laune zu verbreiten, zu lächeln, sich zu freuen, wenn nötig, die Not gerecht zu verteilen und trotz fürchterlicher Gegenerfahrungen weiter auf Menschen zuzugehen und ihnen gar zu vertrauen. Diese Fähigkeit war in ihr nicht kleinzukriegen, so wenig wie ihr Humor. Und wahrlich gab es Zeiten, in denen einem jeder Versuch zur Fröhlichkeit schon im Halse stecken blieb.

Ihr Geheimnis - ich bin erst später dahintergekommen - war eine Unfähigkeit: nämlich die, den Glauben an das Leben zu verlieren, einen dauernden Sieg über das Leben auch nur eine Sekunde lang für möglich zu halten. Lilly Giordano alias Lea Bertini - wenn jemand tapfer war, dann sie.

Nun kann und soll man nicht immer tapfer sein, meine lieben Schülerinnen und Schüler. Ich wünsche Ihnen vielmehr möglichst viele Lebenssituationen, in denen Sie das gar nicht nötig haben. Aber wenn es denn sein sollte, wenn es denn nötig wird, dann seien Sie es, lassen Sie sich nicht einschüchtern!"