Die Geschichte der Türken ist geprägt von Sieg und Niederlage, harten Reformen und deutschen Einflüssen.

Hamburg. Der endgültige Niedergang des mächtigen Osmanischen Reiches, dessen Schatten seit Jahrhunderten über Europa liegt, kündigt sich an, als die Erde vor Wien erzittert. Man schreibt den 12. September 1683. Zwei Monate lang hat die gefürchtete Armee des türkischen Sultans die Stadt mit bis zu 200 000 Soldaten belagert.

An diesem Spätsommermorgen entbrennt die Entscheidungsschlacht zwischen den Belagerern und dem herbeigeeilten kaiserlichen Entsatzheer. Es geht um das Schicksal Europas. Am Nachmittag donnern 20 000 Kavalleristen, in ihrem Kern die polnischen Flügelhusaren, die schwere Panzerwaffe jener Zeit, vom Kahlenberg herab und zertrümmern die Flanke des türkischen Heeres. Zuerst fliehen die Krimtataren, dann ist das ganze Heer des Sultans in Auflösung.

Die Schlacht am Kahlenberg zählt zu den folgenreichsten der neueren Kriegsgeschichte. Sie ist für die Türken verheerender als die Niederlage in der Seeschlacht bei Lepanto 1571 und leitet letztlich den Rückzug des Osmanischen Reiches aus Europa ein. In der Folge sinkt das einstige Weltreich, Sitz des Kalifats und damit Schutzherr der islamischen Welt, zu einem Spielball europäischer Machtinteressen herab.

Das Osmanische Reich hatte die Entwicklung der Moderne in Europa schlicht verschlafen. Während es durch Korruption, politische Verkrustung und rigiden Islam gelähmt wurde, schritt im Westen die kapitalistische Entwicklung weit voran, erstarkte ein dynamisches Bürgertum und kamen wissenschaftliche und technische Neuerungen Gesellschaft und Kriegswesen zugute.

Nach einer Reihe von weiteren verlustreichen Kriegen wird die Türkei zu Beginn des 20. Jahrhunderts gar zum "kranken Mann am Bosporus". Der Erste Weltkrieg, an dem das Land an der Seite der Deutschen kämpft, bringt den endgültigen Zusammenbruch des Imperiums. In einer Welt von Feinden haben die Türken die Deutschen stets als einzige Freunde angesehen. Dreimal besucht Kaiser Wilhelm II. die Türkei; Deutsche bauen den Türken die militärstrategisch wichtige "Bagdad-Bahn". Und nun, 1920, im berüchtigten "Frieden von Sevres", wird das einst riesige Reich, das sich von Albanien und Mazedonien über Palästina bis in den Irak erstreckte, rüde auf Anatolien und Istanbul zusammengestrichen.

Doch damit schlägt die Stunde eines Mannes, der die wohl tiefstgreifende Kulturrevolution der Neuzeit auslöst und der aus Trümmern eine neue Nation erbaut. Es ist Mustafa Kemal, dem sein Volk später den Ehrennamen "Atatürk" - "Vater der Türken" - verleiht, der die Türkei auf ihren langen Weg nach Europa schickt. Der 1881 geborene Offizierssohn wurde bereits als Feldherr zur Legende, als er 1915 eine alliierte Invasion auf der Halbinsel Gallipoli zerschlug - wofür er vom deutschen Kaiser das Eiserne Kreuz erhielt.

Atatürk hat zwar die Kriegsniederlage und den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nicht verhindern können, organisiert aber nun den Aufbau eines unabhängigen türkischen Staates, wird Präsident und Premier der seit 1923 souveränen Türkei. Unverzüglich geht er ans Werk, durch vorher undenkbare Reformen den orientalischen Staat an die westliche Zivilisation anzugleichen. Atatürk schafft das islamische Kalifat ab und macht die Türkei durch die Trennung von Politik und Kirche zu einem laizistischen Staatsgebilde. Das mittelalterliche islamische Recht ersetzt er durch europäische Normen: Schweizer Zivilrecht, (aber mit dem Wahlrecht für Frauen), italienisches Strafrecht, deutsches Wirtschaftsrecht. Sogar auf westliche Kleidernormen stellt er seine Bürger um; der Fez, die beliebte Kopfbedeckung türkischer Männer, wird verboten. Und die arabische Schrift wird durch lateinische Buchstaben ersetzt; damit schafft Atatürk eine weitere Trennung von der arabisch-islamischen Welt.

Von 1933 an nimmt die Türkei bereitwillig Tausende Deutsche auf, die vor den Nazis fliehen - Wissenschaftler und Intellektuelle, die die Entwicklung der Türkei Richtung Westen beschleunigen. Vor allem in der Medizin, den Ingenieurswissenschaften, aber auch in der Musik spielen Deutsche eine wichtige Rolle. Worte wie Taksi (Taxi) oder Oto (Auto) werden Bestandteile der türkischen Sprache. Atatürk führt sein Volk mit eiserner Hand Richtung Europa, wird aber nicht zum Tyrannen. Als er 1935 zum 12. Jahrestag der Republik Plakate vorgelegt bekommt, die ihn jauchzend als "Größten der Nation" feiern wollen, winkt er ab: "Schreibt einfach drauf: ,Einer von uns'."

1938 stirbt er - und hinterläßt ein verpflichtendes Erbe. Den Mut, der Türkei radikale Reformen zuzumuten, haben seine Nachfolger erst mehr als 60 Jahre später. Vieles davon, wie die Abschaffung der Todesstrafe und der Staatssicherheitsgerichte, die Strafrechtsreform und die Eindämmung der politischen Rolle des einst übermächtigen Militärs, wird ausgerechnet von einem geläuterten Islamisten, dem charismatischen Recep Tayyip Erdogan, angegangen. Was viele Kritikern noch vermissen, ist ein klares Bekenntnis der Türkei zum Genozid an den Armeniern Anfang des vorigen Jahrhunderts.

Die Türkei ist auf dem Weg nach Europa, doch ist sie kein sozialer Monolith. So ist das vor Energie berstende Istanbul nicht nur geographisch längst Teil Europas. Ostanatolien hingegen mit seiner Clan-Struktur oder alten Traditionen wie der (offiziell verbotenen) Vielweiberei zählt eher noch zum alten Orient. Doch irgendwann werden die Reformen auch dort greifen müssen. Denn die Türken, die als Eroberer vor Wien scheiterten, wollen nun als Europäer nach Europa hinein.