Es gab keine Freudentänze auf den Straßen, aber auch keine langen Gesichter. Überraschend gelassen reagierte die Türkei gestern auf das so lange herbeigesehnte grüne Licht aus Brüssel. Dennoch dürfte der 6. Oktober 2004 als "historischer Tag" in die türkische Geschichte eingehen. "Nach 40 Jahren wird die wichtigste Hürde auf dem Weg zu Beitrittsverhandlungen mit der EU genommen", schrieb das Massenblatt "Hürriyet".

Unbestritten ist das grüne Licht aus Brüssel für den Reformpolitiker Recep Tayyip Erdogan auch ein enormer innenpolitischer Erfolg - zumal er von westlich-modernen Kreisen in der Türkei wegen seiner Herkunft aus dem islamischen Lager noch immer kritisch beäugt wird. Ihn als einen "zweiten Atatürk" zu bezeichnen sei "sicher ein unsinniger und unangebrachter Vergleich", schrieb gestern ein türkischer Kolumnist. "Aber wenn wir von der EU als Mitglied angenommen werden, ist dies ohne Frage das größte Ereignis seit der Ausrufung der türkischen Republik und den anschließenden Umwälzungen."

Fest steht, daß die Erdogan-Regierung bei ihrem eingeschlagenen Kurs auf breite Unterstützung der Bevölkerung zählen kann. Umfragen ergeben in der Regel eine Zustimmung für einen EU-Beitritt von 70 und mehr Prozent. Bei allen widerstreitenden Erwartungen, die dahinterstehen mögen, vereint sicher alle Türken eine Hoffnung: daß es ihnen, nicht zuletzt auch rein materiell, bessergehen wird, wenn das Land eines Tages Mitglied der EU werden sollte.

Ausländische Investitionen hat die Türkei angesichts des starken wirtschaftlichen Gefälles auch bitter nötig. "Mit unserer heutigen Armut ist ein Beitritt zur EU undenkbar", schrieb die liberale Zeitung "Radikal".