Studie: Auch die Kriminalität wird immer globaler - und die Verwundbarkeit der modernen Gesellschaften nimmt zu.

Hamburg. Die Zukunft wird ungemütlich. Man ahnt es, aber man will es - selbst nach Terroranschlägen wie in London - nicht so richtig wissen. Bis sich Experten zusammensetzen, Fakten aneinanderreihen und ein ziemlich klares Bild erstellen. Das kann dann so aussehen:

"Globalisierung der Kriminalität nimmt zu" : Wahrscheinlichkeit 100 Prozent.

"Entwicklung der organisierten Kriminalität nimmt zu" : Wahrscheinlichkeit 100 Prozent.

"Qualifiziertes und loyales Personal, auch im Sicherheitsbereich, ist weniger verfügbar" : Wahrscheinlichkeit 100 Prozent.

"Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste wird verbessert" : Wahrscheinlichkeit 40 Prozent.

"Verwundbarkeit der nachindustriellen Gesellschaft steigt an" : Wahrscheinlichkeit 90 Prozent.

Sicherheitsexperten aus der deutschen Wirtschaft glauben fest: "Die Sicherheitsanforderungen werden bis zum Jahr 2015 wesentlichen Veränderungen unterliegen." In einer "Zukunftsstudie Security 2015" haben sie sich zur Frage "Welche Faktoren beeinflussen die Sicherheit der deutschen Global Player im Jahr 2015?" Gedanken über die Zukunft gemacht. Eine Studie, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat.

Die Sicherheitschefs von Porsche, Deutsche Bahn, VW der KfW-Bankengruppe und der Deutschen Post setzten sich zusammen mit Experten von Bundeswehr, Verfassungsschutz und Universitäten. Auch dabei war Hans-Ludwig Zachert, ehemaliger Präsident des Bundeskriminalamtes, und Dirk Reimers, ehemaliger Hamburger Polizeipräsident und Innenstaatsrat.

Die Zukunft, die sie sehen, wird tatsächlich ungemütlich. Die Verteilungskämpfe werden härter, die Gesellschaft für Kriminalität anfälliger, die Anforderungen an den einzelnen höher. Auf folgende Entwicklungen werden sich Staat und Wirtschaft demnach einstellen müssen:

  • Die Verwundbarkeit der nachindustriellen Gesellschaft steigt: "Der Staat privatisiert Instrumente und Aufgaben der inneren Sicherheit und kann deshalb gegen diese Form des Angriffes auf Grund eines deutlichen Technologiedefizites, der Komplexität der angegriffenen Objekte, aber auch wegen der fehlenden Zusammenarbeit mit der Wirtschaft und den Betreibern von Netzen - zum Beispiel Datennetzen bei Hackerangriffen - nur wenig unternehmen."
  • Islamistischer Terrorismus hat mit Beginn des 21. Jahrhunderts "eine völlig neue Höchststufe" erreicht. "Neue Phänomene in den Formen des nuklearen, biologischen oder chemischen sowie Cyberterrorismus werden auftreten." Der internationale Terrorismus nimmt "nachhaltig zu".
  • Geschäftsprozesse basieren immer mehr auf der Nutzung des Internets und werden damit anfälliger für Fehler von Angestellten, aber auch für Spionage und gezielte Sabotageakte.
  • Globale Kriminalität nimmt "weltweit markant zu", weil die Straftäter immer mobiler werden. Dagegen steht eine materiell und technisch schlecht ausgestattete Polizei. Fazit: "Dem Vordringen der globalisierten Kriminalität wird damit nicht ausreichend entgegengetreten, so daß sie stetig und nicht unerheblich stark zunehmen wird."
  • Organisierte Kriminalität etabliert sich weltweit in allen Industriestaaten und transferiert ihre illegalen Milliardengewinne in den legalen Wirtschaftsverkehr.
  • Wirtschaftsspionage wird stärker: "Dies bezieht sich auf alle Produkte, Strategien und Strukturen."
  • Die Strafverfolger rücken näher zusammen - auch auf EU-Ebene. "In Deutschland ist ein deutlicher Trend zur stärkeren Professionalisierung und deutlichem Strafverfolgungsinteresse, insbesondere bei der Bearbeitung von Wirtschaftskriminalität erkennbar." Derzeit klagen die Fahnder, gerade in diesem komplexen Ermittlungsbereich gebe es viel zuwenig Personal.
  • Polizei, Bundeswehr, Nachrichtendienste und "andere Sicherheitsakteure" verzahnen sich noch stärker. Eine pragmatische Bekämpfung des internationalen Terrorismus lasse "ideologische und rechtspolitische Standpunkte sowie machtpolitische Eitelkeiten auf Bundes- und Länderebene in den Hintergrund treten". Die Trennung von Nachrichtendiensten und Polizei werde nur noch funktional aufrechterhalten, die Bundeswehr schon im Vorfeld in "Präventions- und Reaktionsmaßnahmen" eingebunden, in Deutschland werde eine "erstarkte Bundespolizei" (bisher Bundesgrenzschutz) immer mehr Aufgaben übernehmen.

Gerade diese letzten beiden Punkte sind für den Sicherheitschef von VW, Dieter Langendörfer, sehr wichtig. "Die Sicherheitsbehörden müssen enger zusammenarbeiten, und wir bieten uns als Sicherheit in der Wirtschaft an, das mit zu unterstützen und uns einzubringen", sagt Hamburgs ehemaliger oberster Bekämpfer der organisierten Kriminalität. "Alle müssen projektbezogen möglichst losgelöst von den eigenen Zuständigkeiten zusammenarbeiten", wünscht sich auch der Sicherheitschef der Deutschen Bahn, Jens Puls. Im Moment würde aber noch zu oft versucht, "mit alten Methoden neue Phänomene in den Griff zu bekommen". Und dieses Phänomen ist für ihn die zunehmende Verwundbarkeit der Gesellschaft durch Kultur- und Glaubenskonflikte.

Parallel zum staatlichen Netz der Sicherheitsstrukturen spinnen deswegen die Sicherheitschefs der großen deutschen Konzerne an einem eigenen Sicherheitsnetz. Das 2003 gegründete "Sicherheitsforum Deutsche Wirtschaft" ist das kleine "Who's who" der großen deutschen Firmen mit weltweiten Standorten. Dazu gehören VW, Bayer Leverkusen, Telekom, Deutsche Post, Deutsche Bahn, Porsche, Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Gesellschaft für Urheberrechte und das Institut für Präventionsforschung. An der Spitze der Sicherheitsabteilungen sitzen überwiegend ehemalige Polizisten. Auch Jens Puls war einst Kripochef in Frankfurt/Main. Man spricht die gleiche Sprache - und tauscht sich häufig aus. Was der eine über mögliche Terrorgefahren erfährt, wissen schnell auch die anderen.

Gern würden die Sicherheitschefs der Wirtschaft mit ihrem Wissen die staatlichen Sicherheitsbehörden unterstützen. "Es wird ein stärkeres Zusammenrücken geben müssen von staatlichen und privaten Sicherheitsbehörden", prognostiziert auch der ehemalige Hamburger Innenstaatsrat Dirk Reimers. Doch das ist wohl wirklich noch Zukunftsmusik.