Zu wenig Hausärzte, zu viele und die falschen Pillen, Mangel in der Pflege: Die Regierungs-Experten schlagen Alarm. Die Ärzte im Norden wollen sich wehren.

Berlin/Hamburg. Der drohende Ärzte- und Pflegermangel macht aus Expertensicht eine völlige Neuordnung des Gesundheitswesens nötig. „Die Gefahr besteht, dass die flächendeckende primärärztliche Versorgung auf Dauer nicht mehr gewährleistet werden kann“, sagte der Vorsitzende des Sachverständigenrats im Gesundheitswesen, Eberhard Wille. „Wir stellen mit Sorgen fest, dass es zu wenig Hausärzte gibt“, sagte Ratsmitglied Ferdinand M. Gerlach.

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) sagte, sie unterstütze die Reformvorschläge. Doch das Gutachten ist auch eine Ohrfeige für die Gesundheitspolitik der Großen Koalition. Kinder und Ältere werden nicht richtig versorgt. Sie bekommen zu viele und oft falsche Medikamente. Selbst die Ausweitung der sogenannten U-Untersuchungen für Kinder dienen nicht dem erwünschten Zweck, Missbrauchsopfer zu erkennen. Außerdem befürchten gerade die Hausärzte, dass die Politik ihnen das Leben noch schwerer macht.

Der Norderstedter Hausarzt Svante Gehring hat mit vielen Kollegen die Aktion Protestquittung ins Leben gerufen. Gehring sagte: „Die Patienten bemerken bisher nur längere Wartezeiten oder höhere Zuzahlungen, aber dass ihr vertrauter Haus- oder Facharzt bald nicht mehr da sein wird, ahnen viele noch nicht! Auf dem Lande sterben unsere Praxen aus, finden keine Nachfolger und in der Stadt verlieren wir sie an die Medizinischen Versorgungszentren der Krankenhausketten und Kapitalgesellschaften. Mit anderen Worten: In Zukunft werden auf dem Lande Patienten gar nicht mehr behandelt und in der Stadt nach ökonomischen Vorgaben so, dass genügend Gewinne für Aktionäre erwirtschaftet werden können.“

Dabei steigt die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen“, wie Gutachter Wille sagte. In Deutschland nimmt die Zahl der Pflegebedürftigen von 2,1 Millionen auf 3,5 bis rund 4,4 Millionen im Jahr 2050 zu. „Der Anteil der Menschen, die für die Versorgung zur Verfügung stehen, schrumpft“, warnte Wille. Schon heute gebe es in Ostdeutschland und in manchen Großstadtvierteln zu wenig Ärzte. Die Sachverständigen bemängelten zudem, dass Kinder und Ältere oft unnötig oder riskant viele Medikamente erhalten. Bei den über 65-Jährigen bekämen 35 Prozent der Männer und 40 Prozent der Frauen neun oder mehr Wirkstoffe in Dauertherapie. Nebenwirkungen seien ein Kernproblem.

Auch bei der Versorgung von Kindern sehen die Forscher trotz insgesamt positiver Ergebnisse Verbesserungsbedarf. So bekämen Kinder unbegründet oft Psycho-Stimulanzien sowie Antibiotika bei Infektionen mit Viren. Programme zur Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen hätten „gravierende Defizite“. Den immer mehr Minderjährigen mit dem ADHS-Syndrom müsse mehr mit Therapien statt einseitig mit Arzneimitteln geholfen werden, sagte Wille. Derzeit haben bereits acht Prozent der Kinder das sogenannte „Zappelphilipp“-Syndrom. Spezielle Sprechstunden für Heranwachsende sollten erprobt werden.

Wille plädierte für ein „Zukunftskonzept“. Ärzte, Kliniken und Apotheker sollten künftig stärker nach Bedarf bezahlt werden und nicht mehr nach einzelnen Diagnosen und Behandlungen. Ärzte verdienten dann nicht mehr an Kranken, sondern an Gesunden, sagte Gerlach. „Wir wünschen, dass die Patienten besser betreut werden, dass mehr Zeit für sie bereitsteht.“

Ministerin Schmidt sagte, altes Denken in den Einzelsektoren des Gesundheitswesens könne man sich nicht länger erlauben. „Die Analysen und Empfehlungen des Rates werden uns helfen, das Gesundheitssystem besser auf die Bedürfnisse aller Generationen auszurichten.“