Die SED nutzte jede Gelegenheit, die Politik im Westen zu diskreditieren. Als der Leichnam des Demonstranten nach Hannover gefahren wurde, standen DDR-Grenzer Spalier.

Am 2. Juni begleitete ein Freund Benno und Christa Ohnesorg zur Nachmittags-Demonstration vor der Deutschen Oper, wo gegen den Besuch des Schahs von Persien protestiert werden sollte. Obwohl Christa im dritten Monat schwanger war, fand das junge Ehepaar die Demonstration richtig und wollte teilnehmen. Benno war Mitglied der Evangelischen Studentengemeinde. Ein eher sanfter und feinsinniger Typ, so beschreibt ihn der Freund.

Während der Wasserwerfer-Einsätze vor der Oper wurden die drei getrennt. Nach Zeugenaussagen wurde Ohnesorg mit einem Grüppchen von Demonstranten von mindestens zehn zivilen und uniformierten Polizisten in einem Hinterhof in der Krummen Straße gestellt. Um ca. 20.30 Uhr fiel ein Schuss, der Ohnesorg aus anderthalb Meter Entfernung in den Hinterkopf traf. Erst spätabends bei der Rückkehr nach Hause erfuhr Christa vor ihrer Haustür von Reportern das Schreckliche. Der Polizist Karl-Heinz Kurras von der Abteilung I für Staatsschutz hatte ihren Mann erschossen.

Dieser Schuss war wie ein Erdbeben, dessen mentale und politische Schockwellen die Republik noch über Jahre erschüttert haben. Es war dieser Schuss, der die innere Haltung vieler junger Leute zu ihrem Land, ihrem System verdunkelte.

Und es war dieser Schuss, auf den sich Ulrike Meinhof und andere 1970 bei der Gründung der RAF beriefen: Die "Bullen" seien "Schweine", eine Macht, die Linke "zusammenknüppelt und die in Berlin ja auch schon geschossen hat".

Deshalb ist die Information, die Helmut Müller-Enbergs und Cornelia Jabs jetzt aus Stasi-Akten zutage förderten, eine mittlere Sensation: Die beiden Mitarbeiter der Birthler-Behörde fanden den Beleg, dass Karl-Heinz Kurras seit zwölf Jahren im Dienst des Ost-Berliner Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) stand. Nicht als einfacher Spitzel, sondern als hochrangiger Agent (siehe Text Seite 3). Müller-Enbergs und Jabs sorgen mit ihrem Bericht, der im "Deutschland Archiv" erscheinen wird, für ein starkes Nachbeben.

Wie weit ging die Einflussnahme der SED auf das Geschehen in West-Berlin? Kurras hatte sich 1955 selbst der Stasi angedient, war im Dezember 1962 in die SED eingetreten und wurde als "IM Otto Bohl" geführt. Das MfS schätzte ihn hoch, weil er unschätzbare Detailinformationen habe liefern können, so der Bericht. Vor allem, als sich die innenpolitische Situation in Westdeutschland verschärfte: Mit großem Interesse beobachteten seine Auftraggeber die Aktionen der Studentenbewegung.

Anders als die Studentenbewegungen in anderen Industrieländern sei die bundesdeutsche in West-Berlin "gewissermaßen auf einer Insel im Ostblock entstanden und war durch den Konflikt zwischen Ost und West hochgradig politisch aufgeladen", sagt der Politologe Wolfgang Kraushaar vom Hamburger Institut für Sozialforschung.

Nach dem Verbot der KPD 1956 habe die SED neue Partner in Westdeutschland gesucht, "erstens für die eigene Arbeit und zweitens, um die Regierungspolitik der Bundesregierung und des Berliner Senats diskreditieren zu können".

In einer Rede auf dem VII. Parteitag der SED im April 1967 über die westdeutsche Studentenbewegung habe Walter Ulbricht "sozusagen die Marschrichtung vorgegeben", so Kraushaar: Ulbricht forderte, die brauchbaren Kräfte der Intelligenz und damit der Studentenbewegung zu integrieren und die unbrauchbaren zu isolieren und abzudrängen.

"Das heißt, man hat auf eine Spaltung und eine Instrumentalisierung der Studentenbewegung gesetzt", sagt Kraushaar.

Als Ohnesorgs Leichnam am 8. Juni 1967 mit einem Trauer-Konvoi auf der Transitstrecke von West-Berlin nach Hannover überführt wurde, standen die DDR-Grenzer an ihren Posten Spalier, und Hunderte von FDJ-lern waren aufgeboten worden, um ihr Beileid zu bekunden. Offenbar setzte man in Ost-Berlin auf demonstratives Mitgefühl.

Kurras stand mit dem MfS außer über eine Kurierin über Funk in Kontakt. Nach dem tödlichen Schuss, der Kurras' Namen republikweit bekannt machte, notierte sein Führungsoffizier Eiserbeck, aus Gründen der Sicherheit werde die Verbindung abgebrochen.

Das MfS funkte an Kurras: "Material sofort vernichten. Vorerst Arbeit einstellen. Nach Abschluss der Untersuchungen selbständig melden. Betrachten Ereignis als sehr bedauerlichen Unglücksfall."

Wolfgang Kraushaar hält es für möglich, dass die SED lediglich "die Lesart des Bedauerns" habe vermitteln wollen. Das erschien politisch opportun. Zwar findet sich in den Akten, die die Birthler-Mitarbeiter Jabs und Müller-Enbergs durchforsteten, kein Hinweis auf einen Auftrag an Kurras, bei den Anti-Schah-Demonstrationen am 2. Juni 1967 auf einen Studenten zu schießen. Aber die Akten wurden, so der Bericht, nachträglich ab Frühjahr 1967 "erkennbar ausgedünnt".

Karl-Heinz Kurras lieferte verschiedene widersprüchliche Aussagen zum Tathergang. Er führte vor allem an, er habe sich von den Demonstranten im Hof Krumme Straße 66/67 bedroht gefühlt. Demgegenüber sagte eine Reihe von Zeugen aus, von Notwehr könne keine Rede gewesen sein. Kurras' Polizei-Kollegen jedoch bestätigten seine Notwehr-Darstellung. Zweimal wurde Kurras aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Aber jetzt ist die Frage wieder offen: Kann es sich doch um einen vorsätzlichen Mord gehandelt haben? Neue Ermittlungen und ein neues Strafverfahren erscheinen unausweichlich. Obwohl Kurras, der als Rentner in Berlin-Spandau lebt, inzwischen 81 Jahre alt ist.

Aber Mord, wenn es einer war, verjährt nicht.