Nach dem bekannt wurde, dass der Student Benno Ohnesorg 1967 möglicherweise von einem Stasi-Spitzel erschossen wurde, diskutieren Experten über eine neue Bewertung der Studentenbewegung. Der Ex-“Spiegel“-Chef Stefan Aust glaubt: “Das ändert alles.“

Hamburg. Hamburger Abendblatt:

Herr Aust, der Polizist Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg erschoss, war Stasi-Mann. Ändert das die Sicht auf den Beginn der Studentenbewegung?

Stefan Aust:

Das ändert alles. Denn die Studenten sind damals natürlich davon ausgegangen, dass der Staat jetzt auf Menschen schießt, wenn auch in Form eines durchgeknallten Polizisten. Das war ein großer und ganz tiefer Schock: dass ein Vertreter des Staates seine Waffe zieht und bei einer Demonstration einen Studenten erschießt. Die Empörung darüber war so groß, dass es die Protestbewegung befördert hat wie kaum ein anderes Ereignis. Die "Bewegung 2. Juni" hat sich nach die-sem Tag und diesem Todesschuss benannt und nicht nach dem Besuch des Schahs von Persien. Und wenn sich jetzt herausstellt, dass der Schütze ein Vertreter des gegnerischen Staats gewesen ist, dann ändert das die Bewertung grundlegend.

Abendblatt:

Kurras hat vor Gerichtverschiedene Versionen vorgetragen: Seine Waffe sei versehentlich losgegangen; er habe sich bedrängt gefühlt und aus Notwehr geschossen.

Aust:

Auch diese Aussagen erscheinen heute in einem anderen Licht. Kurras war offenbar ein überzeugter Kommunist, Mitglied der SED, Mitarbeiter der Stasi. Er war ja sozusagen auf der Seite der Studenten. Wieso will er sich von denen bedrängt gefühlt haben? Die hat er doch für seine Gesinnungsgenossen gehalten! Diese Geschichte stimmt vorn und hinten nicht mehr.

Abendblatt:

Trotz anderer Zeugenaussagen haben seine West-Berliner Polizei-Kollegen die Notwehr-Version bestätigt.

Aust:

Die haben ihn gedeckt, weil sie natürlich dachten, er sei einer von ihnen. Sie wussten nicht, dass er für die Gegenseite arbeitet. Ich behaupte nicht, dass er absichtlich geschossen hat. Aber wenn man die Auseinandersetzungen am 2. Juni im Maßstab des Kalten Krieges betrachtet: Es war durchaus im Interesse der DDR, die Unruhen im Westen zu schüren. Und dass dieser Schuss dazu beigetragen hat, ist ganz offenkundig. Der Verdacht, dass er nicht ganz so unbeabsichtigt gewesen ist, liegt nahe.

Abendblatt:

Kurras hat für damalige Verhältnisse sehr viel Geld vom DDR-Ministerium für Staatssicherheit bekommen.

Aust:

Das spricht auch dafür, dass er spezielle Aufträge hatte. Das war kein x-beliebiger Spitzel, sondern ein professioneller Agent.

Abendblatt:

Die Stasi hat am 8. Juni an ihn gefunkt: "Betrachten Ereignis als sehr bedauerlichen Unglücksfall". Für wie glaubwürdig halten Sie diese Behauptung?

Aust:

Ich halte es überhaupt nicht für glaubwürdig. Die DDR oder zumindest Teile des Staatsapparats standen der Entwicklung der Gewalt in der BRD eher positiv gegenüber. Das wissen wir aus verschiedenen anderen Fällen. Als die Bewegung der RAF kurz darauf 1970 begann und RAF-Mitglieder in den Nahen Osten flogen, sind sie immer über Ost-Berlin geflogen. Die Stasi hat genau gewusst, wer da reist. Sie hat die RAF-Leute zum Teil festgehalten, ihnen die Waffen abgenommen und sie verhört. Die RAF-Leute haben auch freiweg erklärt, was sie vorhatten: den alliierten Stadtkommandanten zu entführen oder Banken zu überfallen oder bei Springer Bomben zu werfen. Und wenn sie ihre Aussagen gemacht haben, hat die Stasi ihnen ihre Waffen wiedergegeben und sie weiterreisen lassen. Später, 1980, hat die DDR acht oder zehn RAF-Aussteiger aufgenommen, sie hat sogar aktive Terroristen in der DDR trainieren lassen. Das liegt alles auf derselben Ebene. Und jetzt bekommen wir die Information, dass derjenige, der wahrscheinlich an der Entstehung des Terrorismus in der BRD genauso großen Anteil hatte wie ein durchschnittlicher Terrorist, für die Stasi gearbeitet hat.

Abendblatt:

Wenn das damals bekannt geworden wäre - was wäre dann anders gelaufen?

Aust:

Das hätte man sich nicht vorstellen können. Das hätte kein Mensch geglaubt. Aber klar ist: Die radikale Linke hätte sich jedenfalls nicht auf die tödlichen Schüsse auf Ohnsesorg beziehen können, wenn sie den Staat als neuen faschistischen Polizeistaat bezeichnete. Vielleicht hätte es dem einen oder anderen zu denken geben müssen, dass ein DDR-Agent einen gegen den Schah demonstrierenden Studenten erschossen hat. Das Ganze war sicher ein Meilenstein auf dem Weg in die Gewalt. Sicher nicht der Einzige, aber ein wichtiger.

Abendblatt:

Was muss jetzt geschehen?

Aust:

Ich finde diesen Vorgang so ungeheuerlich wie kaum eine Enthüllung der letzten Jahre. Sie gibt Anlass zu neuen intensiven Untersuchungen und Recherchen. Auch wenn Kurras 81 Jahre alt ist, müssen bei einem so neuen Informationsstand die Ermittlungen noch einmal neu aufgenommen werden. Man muss endlich etwas über mögliche Hintermänner der Tat in Erfahrung bringen.

Abendblatt:

Was genau wäre zu ermitteln?

Aust:

Es gibt erheblichen Aufklärungsbedarf. Unter anderem: Wer vom MfS hatte mit Kurras engen Kontakt? Der Führungsoffizier, gibt es den noch? Welche Unterlagen gibt es möglicherweise sonst noch? Den Verdacht, dass es eine geplante Aktion war, kann man nicht ohne Weiteres von der Hand weisen. Nicht in dem Sinn, dass speziell Ohnesorg erschossen werden sollte, sondern etwas zu machen, was richtig Öl ins Feuer gießt. Schon allein das wäre ein Grund für eine Wiederaufnahme des Verfahrens.