Die Verwicklung der Stasi in die tödlichen Schüsse auf den Studenten Benno Ohnesorg hat eine Debatte über eine neue Bewertung der Studentenbewegung ausgelöst. Wissenschaftler fordern jetzt auch eine Überprüfung des Falls Rudi Dutschke.

Berlin. Mehr als 40 Jahre nach dem tödlichen Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg haben Enthüllungen über eine mögliche Stasi-Verwicklung eine Debatte über die Neubewertung der Studentenbewegung ausgelöst. Der Hamburger Politologe Wolfgang Kraushaar sagte am Freitag, die neuen Erkenntnisse über den Täter würden ausreichen, „die Geschichte des 2. Juni 1967 neu zu schreiben“. Der Historiker Manfred Wilke hielt der Birthler-Behörde vor, den verdeckten Einfluss der SED auf die bundesdeutsche Politik nicht systematisch genug zu erforschen. Der Politikprofessor Gerd Langguth hält angesichts der neuen Informationen eine Prüfung auf einen Stasi-Zusammenhang auch im Fall Rudi Dutschke für nötig.

Neue Stasiakten tauchen einen Schicksalstag der deutschen Studentenbewegung in ein neues Licht. Nach Erkenntnissen von Forschern der Birthler-Behörde wurde Ohnesorg am 2. Juni 1967 von einem Stasi-Agenten erschossen. Demnach hatte sich der Todesschütze, der West-Berliner Polizist Karl-Heinz Kurras, bereits 1955 gegenüber dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR verpflichtet, die West-Berliner Polizei auszuspähen. Zudem war er Mitglied der DDR-Staatspartei SED, wie ein archivierter Parteiausweis aus seiner Stasiakte zu belegen scheint.

Auf die Tätigkeit des Westberliner Polizisten für das Staatssicherheitsministerium der DDR waren zwei Mitarbeiter der von Marianne Birthler geleiteten Stasi-Akten-Behörde rein zufällig gestoßen. Das ZDF und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ berichteten über die Erkenntnisse, die von den beiden Wissenschaftlern Helmut Müller-Enbergs und Cornelia Jabs beim Studium von 17 Aktenbänden zu diesem Fall gewonnen wurden. Sie sollen am kommenden Donnerstag unter dem Titel „Der 2. Juni 1967 und die Staatssicherheit“ in der Zeitschrift „Deutschlandarchiv“ veröffentlicht werden.

Danach war Kurras bereits seit 1955 als IM mit dem Decknamen „Otto Bohl“ für die Stasi tätig und beantragte 1962 das SED-Parteibuch, das er 1964 auch erhielt. Den Recherchen zufolge lieferte der Beamte der DDR fleißig Erkenntnisse und Dokumente aus der Westberliner Polizei und erhielt auch Geld dafür. Auch sei er von der Stasi mit einer Waffe und Geld für eine Pistole mit Kleinkaliberaufsatz ausgestattet worden. In den Akten finde sich allerdings kein Hinweis darauf, dass Kurras von DDR-Seite mit seiner Tat vom 2. Juni 1967 beauftragt worden sei, „und es erscheint auch nicht plausibel, dass er jemanden erschießen sollte“, sagte Müller-Enbergs im ZDF.

Die DDR jedenfalls reagierte eher nervös auf die Nachricht vom tödlichen Schuss ihres IM am Rande der Demonstrationen gegen den Besuch des Schahs von Persien in Westberlin. Nach den Unterlagen der Stasi-Akten-Behörde forderte das Staatssicherheitsministerium Kurras auf, sofort sein Material zu vernichten und die Arbeit vorerst einzustellen. „Betrachten Ereignis als sehr bedauerlichen Unglücksfall“, hieß es demnach in dem Funkspruch aus Ostberlin.

Die Berliner Polizeibehörde teilte am Freitag mit, sie habe weder vor 1967 noch danach Hinweise auf eine Agententätigkeit des heute 81-Jährigen gehabt. Andere offizielle Stellen wollten sich nicht zu den neuen Erkenntnissen äußern. Kurras war in zwei Verfahren 1967 und 1970 mangels Beweisen vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen worden. Der 81-Jährige lebt heute in Berlin-Spandau. In „bild.de“ sagte Kurras auf die Frage nach seiner Stasi-Verwicklung: „Gar nichts. Ich soll das schon seit 1955 sein. Gab es da überhaupt schon die Stasi?“

Ob es zu einem neuen Prozess gegen Kurras kommen wird, ist fraglich. Der Vorsitzende der Vereinigung 17. Juni und stellvertretende Bundesvorsitzende der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS), Carl-Wolfgang Holzapfel, hat nach eigenen Angaben in einem Polizeirevier in Berlin-Charlottenburg Strafanzeige gegen den 81-Jährigen erstattet. Diese wird in den nächsten Wochen von der Staatsanwaltschaft geprüft. Offen sei, ob daraus ein Wiederaufnahme- Verfahren gegen Kurras folgt, sagte Richter Robert Bäumel vom Berliner Landgericht.

Ein erneutes Verfahren könnte laut Bäumel nur eingeleitet werden, wenn neue Beweismittel da sind. Zudem müsse geprüft werden, ob die Tat nicht verjährt ist.

Die jüngsten Enthüllungen hätten nach Auffassung von Ex-Bundesinnenminister Otto Schily den damaligen Prozess um den Tod des Studenten verändert. „Ganz sicher wäre die Verwirrung groß gewesen, über die sonstigen Merkwürdigkeiten im Verfahren hinaus“, sagte Schily der „Bild“-Zeitung. Auch für ihn als Nebenkläger-Vertreter von Ohnesorgs Vater „hätten die jetzt bekanntgewordenen Fakten die Prozesssituation sicherlich verändert“.

Der Historiker Arnulf Baring und die Grünen-Politikerin Antje Vollmer vertraten hingegen die Auffassung, die Studentenproteste nach dem Tod Benno Ohnesorgs wären nicht anders verlaufen, wenn die SED-Mitgliedschaft des Todesschützen bekannt gewesen wäre.

Der einstige APO-Anwalt und heutige Grünen Politiker Hans-Christian Ströbele reagierte fassungslos auf die Enthüllungen zu möglichen Stasi-Verstrickungen von Kurras. „Das ist abenteuerlich, das ist Wahnsinn", sagte Ströbele dem „Hamburger Abendblatt“ (Sonnabend-Ausgabe). „Es war völlig undenkbar und überhaupt nicht im Bereich unserer Vorstellungen, dass Kurras und der Tod von Ohnesorg im Zusammenhang mit der Stasi stand.“ Ströbele arbeitete damals dem Untersuchungsausschuss zum Tod von Benno Ohnesorg und dem Ermittlungsausschuss der APO in der Berliner TU zu und begleitete als junger Referendar im Rechtsanwaltsbüro von Horst Mahler den Prozess gegen Kurras.

Ströbele forderte, nun aufzuklären, ob die Stasi auch in die Aufklärung des Falls verwickelt war. Das Landgericht Berlin hatte Kurras 1967 aus Mangel an Beweisen vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. „War die Stasi auch in die Verhinderung der Aufklärung verwickelt? Wie kam es zu den ganzen Falschmeldungen?“, fragt Ströbele. „Diese Frage muss jetzt dringend geklärt werden.“ Für Ströbele war nicht nur der Tod von Ohnesorg, sondern auch das Verhalten der Polizei, der Justiz und Politik danach ein Skandal. „Sie haben zunächst versucht, alles zu vertuschen und zu bagatellisieren“, sagt er. „Das hat auch bei mir zu einer Verbitterung und Empörung geführt. Ich sah den Staat deshalb als Gegner.“

Der Bruder von Benno Ohnesorg, Willibald, will sich auf Grund der neuen Informationen die Stasi-Akten gerne anschauen. Er wolle für die Familie zum jetzigen Zeitpunkt aber keine Stellungnahme abgeben, sagte der in Hannover lebende Bruder am Freitag. Alles andere zum Tod seines Bruders am 2. Juni 1967 habe die Familie im Laufe der Jahrzehnte gesagt. Benno Ohnesorgs Sohn Lukas vertrat in der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ die Ansicht, die Stasi-Akten würden die Debatte um den Tod seines Vaters und über die Studentenunruhen neu entfachen. Dessen gewaltsamer Tod sei ein „Schicksalsschlag“ gewesen, der die Familie bis heute belaste. Lukas Ohnesorg kam fünf Monate nach dem Tod seines Vaters zur Welt, seine Mutter starb vor einigen Jahren.

Der Politikwissenschaftler Langguth forderte eine komplette Überprüfung des Falles Benno Ohnesorg. „Die neuen Informationen sind für mich nicht völlig überraschend. Es war bekannt, dass die Berliner Sicherheitsbehörden, auch der Berliner Verfassungsschutz, durch die Staatssicherheit unterwandert waren.“ Nach Ansicht Langguths sollte die Birthler-Behörde jetzt auch untersuchen, ob die Schüsse auf Dutschke 1968 einen möglichen Stasi-Hintergrund hatten. Der 1961 aus der DDR nach West-Berlin übergesiedelte Studentenführer hatte das Attentat schwer verletzt überlebt, starb aber 1979 an den Spätfolgen.