Annkathrin Kammeyer (SPD), Katharina Fegebank (GAL), Marcus Weinberg (CDU) und Heiner Garg (FDP) stehen Rede und Antwort.

Hamburger Abendblatt: Musste Christian von Boetticher zurücktreten?

Marcus Weinberg: Ja. Seine Entscheidung war politisch richtig. Es ging um den Schutz seiner Person und der Partei. Dabei bewerte ich den Sachverhalt selbst nicht.

Heiner Garg: Ich weiß nicht, ob er zurücktreten musste. Das ist die einzig ehrliche Antwort, die ich geben kann. Er hat sich strafrechtlich nichts zuschulden kommen lassen.

Katharina Fegebank: Ich bin die Letzte, die den Stab über jemanden bricht und die Moralkeule schwingt, wenn einer sich entscheidet, sein Privatleben so zu gestalten, wie Herr von Boetticher es getan hat. Unmoralisch finde ich, wie im Nachhinein über den Sachverhalt geschrieben und gesprochen wird. Es ist geradezu bigott, wie wir uns ereifern und ergötzen an neuen Meldungen über diesen Fall.

Annkathrin Kammeyer: Ich finde, Herr von Boetticher hätte nicht zurücktreten müssen. Allerdings ist es konsequent, dass er es getan hat, da wohl auch Druck aus seiner Partei kam. Er hätte an seiner Spitzenkandidatur keine Freude mehr gehabt - diese Geschichte wäre immer wieder hochgekommen.

Weinberg: Die große Aufmerksamkeit kommt von der Besonderheit des Falls. Wir haben in der Bundesrepublik schon viel erlebt: Politiker, die fremdgehen, oder auch verheiratete Ministerpräsidenten, die ein uneheliches Kind haben, wie Horst Seehofer. Das Thema Homosexualität ist auch abgearbeitet. Dass ein Politiker aber eine Beziehung mit einer 16-Jährigen einräumt, ist hier jedenfalls neu. Es kommt hinzu, dass Herr von Boetticher stets einen traditionell-konservativen Eindruck seiner Person nach außen vermittelt hat.

Garg: Wenn jemand versucht, von sich ein Bild zu zeichnen, das in bestimmten Teilen so gar nicht mit der Realität übereinstimmt, setzt man sich selbstverständlich der Gefahr aus, dass eine solche Hülle angekratzt wird.

Das ist Doppelmoral, oder?

Garg: Vielleicht. Mein moralischer Anspruch an mich selbst ist, mich nie auf ein moralisches Podest zu stellen, von dem man schnell heruntergestoßen werden kann. Für mich ist wichtig, dass ich authentisch bleibe. Eine Folge ist dann doch, dass die Menschen merken, dass Politiker auch nicht anders sind als sie. Die haben sogar Sex.

Fegebank: Aber es hat bei uns andere Konsequenzen als bei Otto Normalverbraucher. Politiker werden im Ranking der Berufsgruppen stets im Minusbereich gehandelt, gleichzeitig werden sie mit ganz hohen Erwartungshaltungen aus der Gesellschaft konfrontiert. Man erwartet von künftigen Ministerpräsidenten, dass sie sich wie Lichtgestalten verhalten, dass sie klar und sauber handeln. Das führt bei vielen Politikern zu einer Glaubwürdigkeitsfalle. Man sagt das eine, denkt und handelt aber ganz anders. Doppelmoral ist weit verbreitet.

Andersherum gefragt: Wenn in Ihrem Freundeskreis ein 40-Jähriger eine 16-Jährige als neue Partnerin präsentiert, wäre das für Sie in Ordnung?

Fegebank: Ich würde sagen: Werdet glücklich miteinander! Es ist doch irre, dass die gesetzlichen Regelungen fortschrittlicher sind als das Moralverständnis der Gesellschaft.

Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn eine 40-jährige Politikerin eine Beziehung zu einem 16-Jährigen gehabt hätte?

Garg: Ich glaube, die Frau hätte es noch schwieriger gehabt. Unabhängig davon, ob sie Politikerin gewesen wäre.

Fegebank: Gesellschaftlich ist das schon ein Riesenproblem. Wenn von Boetticher etwa ein Postbote gewesen wäre, hätte es wahrscheinlich keine Wellen geschlagen. Wenn aber eine Postbotin mit einem 16-Jährigen im Dorf auftaucht, dann ist das Gerede groß.

Kammeyer (lacht): Ich glaube, wenn ich als 21-Jährige einen 16-jährigen Freund hätte, dann wäre das wohl etwas anderes.

Hätte von Boetticher zurücktreten müssen, wenn er in einer anderen Partei wäre?

Kammeyer: Ich kann nicht sagen, wie es in der SPD gewesen wäre. Entscheidend ist, wie der Rückhalt in der eigenen Partei ist. In Schleswig-Holstein gab es ja offensichtlich Leute, die dafür gesorgt haben, dass die Sache rauskommt.

Fegebank: Das eine ist der Rückhalt in der eigenen Partei, aber es geht auch darum, gewählt zu werden. Eine solche Situation wie die von Boettichers wäre unzumutbar für den Erfolg der Partei angesichts der Empörung in der Bevölkerung. Das wäre bei uns Grünen auch nicht anders gewesen.

Hätte von Boetticher zurücktreten müssen, wenn er Mitglied der Hamburger CDU gewesen wäre?

Weinberg: Ich glaube, ja. Mehrheitlich hätte es bei uns die Erwartung gegeben, dass er zurücktritt. Das hat mit der Wertehaltung in der CDU zu tun. Das Verständnis davon, was akzeptiert wird und was nicht, hat sich dennoch auch bei uns im Laufe der Jahrzehnte verändert. Heute ist es unproblematisch, dass ein Erster Bürgermeister homosexuell sein kann, wie das Beispiel Ole von Beust gezeigt hat.

Aber ein 40 Jahre alter Mann mit einer 16 Jahre alten Freundin wäre nie Ministerpräsident geworden.

Fegebank: Das glaube ich auch nicht. Die Entscheidung zum Rücktritt von Boettichers musste auch deswegen fallen, weil Schleswig-Holstein auf der Zielgeraden zum Landtagswahlkampf ist. Der Mann ist politisch tot. In der Union war so viel Druck auf dem Kessel neun Monate vor der Wahl, dass von Boetticher nach draußen treten und sich bekennen musste, damit seine Partei noch Zeit hat, einen neuen Spitzenkandidaten zu finden.

Garg: Was würde eigentlich passieren, wenn ein Spitzenpolitiker seine minderjährige Freundin auf einem Parteitag vorstellen würde? Möglicherweise würde er nicht Spitzenkandidat werden. Möglicherweise würde aber auch das Gegenteil passieren, weil er authentisch und offen gehandelt hat.

Kammeyer: Genau - wenn die Dinge von Anfang an klar sind, muss man am Ende auch nicht zurücktreten. Von Boetticher ist zurückgetreten, weil er erwischt wurde und nicht weil er es gemacht hat. Das ist Doppelmoral.

Was muss privat bleiben, und was darf es nicht?

Fegebank: Skandale müssen natürlich öffentlich gemacht werden, wenn etwas Kriminelles passiert im Privatleben. Auch unlauteres Verhalten im politischen Geschäft wie Korruption muss öffentlich sein.

Aber es gibt ja kaum etwas Privateres als eine Beziehung. Was davon muss öffentlich werden?

Fegebank: Wenn es den gesetzlichen Rahmen verlässt, hat die Öffentlichkeit ein Recht darauf, dies zu erfahren. Alles andere liegt im Ermessen der jeweiligen Person. Es gibt ja auch durchaus Politiker, die das Privatleben nutzen, geradezu instrumentalisieren, die Heile-Welt-Familie präsentieren und dadurch Sympathiewerte einfahren - Stichwort zu Guttenberg.

Weinberg: Wir müssen doch ehrlich mit uns selbst sein. Natürlich gibt es politischen Druck von Parteifreunden oder gesellschaftlichen Druck von der Öffentlichkeit. Es ist immer ein Ritt auf der Rasierklinge, immer ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren.

Garg: Ich glaube es hängt maßgeblich davon ab, wofür man sich entscheidet, etwa sein Privatleben zu zelebrieren, sein Innerstes nach außen zu kehren. Wer jeden, der es nicht wissen will, darüber informiert, wie warm, wie kalt die Getränke auf welcher Insel sind, wenn man sich dafür entscheidet, dann muss ich damit rechnen, dass mein Privatleben auch in der Öffentlichkeit ausgebreitet wird.

Wie halten Sie es?

Garg: Ich habe für mich selber schon vor über 25 Jahren entschieden, mit meinem Privatleben zwar offen umzugehen, daraus aber keine Homestory zu machen. Wenn mich jemand fragt, bekommt er eine ordentliche Antwort, und das war's dann. Ich habe jede Anfrage nach irgendwelchen Homestorys abgelehnt. Ich werde weder meine Vogelvolieren der Öffentlichkeit zugänglich machen, noch werde ich eine Käsesuppe kochen.

Hätte von Boetticher also genau wissen müssen, was passiert, als er diese Beziehung eingegangen ist?

Garg, Fegebank, Weinberg, Kammeyer (unisono): JA!

Gibt es etwas in Ihrem politischen Leben, von dem Sie es lieber gehabt hätten, wenn es nicht an die Öffentlichkeit geraten wäre?

Weinberg (lacht): Nein. Und meine St.-Pauli-Fußball-Leidenschaft kann ich halt nicht unterdrücken.

Garg: Meinen Auftritt mit Horst Schlämmer hätte es nicht unbedingt gebraucht. Aber er hat mir auch nicht nachhaltig geschadet.

Kammeyer: Meine politische Karriere ist ja noch extrem jung. Ich habe eigentlich keine Leichen im Keller.

Fegebank: Man ist in der Tat vorsichtiger. Schon wenn man abends ausgeht. Mit wem gehe ich in welche Bar, in welchen Club? Mit wem gehe ich wieder raus? Welche Straße gehe ich dann entlang? Wer könnte da als Leserreporter noch einen kleinen Schnappschuss von mir machen? Ich bin da nicht paranoid, aber doch ein wenig vorsichtig.

Geht Ihnen das auch so?

Kammeyer: Ja, auf jeden Fall. Ich bin ja auch noch in dem Alter, in dem es völlig normal ist, dass man ab und zu auf dem Kiez zu finden ist. Ich gebe mir große Mühe, mich so zu benehmen, dass ich noch ein Vorbild sein kann, dass ich nicht irgendwo betrunken in einer Ecke hänge. Seit ich mein Mandat habe, achte ich da noch mehr drauf. Ich war aber noch nie ein Freund vom Komasaufen. Man gibt sich aber noch mehr Mühe, weil ich die Verantwortung sehe. Und der möchte ich auch entsprechen. Ich möchte nicht anfangen, in meiner Freizeit ein Doppelleben zu führen.

Ist es als Politiker noch ein Problem, sich als homosexuell zu outen?

Garg:Nö, das war für mich kein Problem. Allerdings bin ich auch extrem langweilig. Ich lebe seit fast 27 Jahren in einer festen Beziehung. Mit allen Hochs und Tiefs, die eine solche Beziehung mit sich bringt. Ich habe von Anfang an einen möglichen Angriffspunkt gar nicht zu einem Angriffspunkt werden lassen. Ich habe gesagt, das ist so, und jetzt könnt ihr entscheiden, ob ihr das wollt oder nicht.

Ist das wirklich so einfach, oder ist es nicht doch sehr kompliziert, im Einzelfall zu entscheiden, was geht und was nicht?

Weinberg: Authentisch muss man bleiben. Nehmen wir mein Beispiel, in einer konservativen Partei ein unverheirateter Vater zu sein. Da gibt es auch Hinweise von selbst ernannten Beratern, ob das nicht anders besser wirken würde. Private Entscheidungen sollten aber nicht politisch geleitet sein. Wenn man einmal mit dem Verbiegen anfängt, kommt man in einen Kreisel, aus dem man nicht wieder herauskommt.

Stimmen Sie dem zu, Frau Fegebank?

Fegebank: Das Leben bietet so wahnsinnig viele Verlockungen. Es sind ganz banale Dinge. Etwa in einem Motorboot auf der Müritz zu fahren und dann vom Käpt'n zu hören, dass man gerade 28 Liter Sprit verbraucht. Es geht auf der einen Seite in meinem Fall darum, zu grünen Grundsätzen zu stehen. Und auf der anderen Seite geht es darum, das eigene Leben zu genießen, Spaß zu haben und einen Ausgleich zu finden. Und der Ausgleich liegt in dem kleinen, begrenzten Privatleben mit all seinen Verlockungen, die man sich als Politiker eher als andere Leute verkneifen muss. Ich finde aber auch, dass man zu seinen Fehlern stehen muss.

Wann und unter welchen Umständen kann ein Gestrauchelter wie von Boetticher in die Politik zurückkehren? (Lange Pause)

Fegebank: Wenn er sich unentbehrlich gemacht hat. So war es etwa bei Seehofer oder in unserer Partei mit Cem Özdemir, der ja wegen einer Kredit- und anschließend einer Bonusmeilen-Affäre zurückgetreten ist. Diese Art der Verfehlung hat in der gesellschaftlichen Wahrnehmung moralisch wahrscheinlich nicht so ein hohes Gewicht wie die Beziehung zu einer 16-Jährigen. Es ist daher nicht abzusehen, ob es für von Boetticher eine Chance gibt zurückzukehren.

Weinberg: Ich glaube, die richtige Formulierung wäre: Nicht er kommt zurück, sondern wird zurückgeholt. Er hat es selbst nicht in der Hand.

Sie antworten interessanterweise machtpolitisch und nicht moralisch. Wann ist eine moralische Verfehlung abgegolten?

Fegebank: Wenn jemand wieder zurückgeholt wird, ist das ja auch eine Form der Rehabilitation - sowohl politisch, als auch moralisch. Denn man würde doch niemanden politisch zurückholen, wenn man der Meinung wäre, dass ihm moralisch noch viel Schmodder anhängt.

Kammeyer: Die Affäre würde von Boetticher immer anhaften, wenn man ihn zurückholen würde. Ministerpräsident wird er nicht mehr werden.

Garg: Man kann daraus etwas lernen und als gereifter Mensch aus so einer Krise wieder herauskommen.

Ole von Beust hat nach seinem Rücktritt die Beziehung zu einem 19-Jährigen bekannt gemacht. Was wäre passiert, wenn er das getan hätte, als er noch im Amt war?

Fegebank: Die Debatte wäre enorm gewesen. Sie kannten sich wohl schon länger. Das hätte hohe Wellen geschlagen.

Weinberg: Die Diskussion mag ich mir gar nicht vorstellen. Ich weiß nicht, wie das ausgegangen wäre.