Der türkische Regierungschef Erdogan berät mit Kanzlerin Merkel über EU und Integration - und schickt handfeste Vorwürfe vorraus.

Hamburg. Seinem Besuch in Berlin hat der türkische Ministerpräsident einen handfesten Vorwurf vorausgeschickt, freilich nicht an die Adresse der Bundesregierung. Recep Tayyip Erdogan warf der EU vor, sie verweigere seinem Land eine klare Perspektive für einen Beitritt. "Wenn ihr die Türkei nicht wollt, dann sagt das auch", sagte Erdogan. Ein bisschen hat er damit aber auch Kanzlerin Angela Merkel gemeint, die von der türkischen Europa-Bewerbung bekanntlich nicht viel hält. Merkel ist davon überzeugt, dass die Türkei mit einer "privilegierten Partnerschaft" mit der EU bereits bestens bedient wäre.

An diesem Sonnabend wird Merkel Erdogan im Kanzleramt empfangen. Unterstützung in ihrer Position in der Türkei-Frage erhielt Merkel am Freitag von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU): "Ich lehne eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU rundweg ab." Dies sei auch "die klare Position von CDU und CSU". Europa wäre mit einer Aufnahme der Türkei in die EU überfordert - zumal die säkularen Kräfte in der Türkei immer weiter zurückgedrängt würden.

Eine offene Anspielung auf das jüngste Referendum in der Türkei, mit dem die Allmacht der Armee eingeschränkt worden ist. Mit der Abschaffung der Amnestie für die Putschgenerale von 1980 und der Einschränkung der Militärgerichte wird die Sonderstellung, die das Militär über Jahrzehnte hatte, tatsächlich endgültig aufgehoben. Einerseits erfüllt die Türkei damit eine wichtige Forderung der EU. Andererseits befürchten die Gegner von Erdogans islamisch-konservativer Regierungspartei Gerechtigkeit und Entwicklung AKP nun einen Kurswechsel. Seit Atatürks Zeiten galt die Armee als Garant einer säkularen Ordnung. Viele warnen nun vor einer geheimen Agenda des gewendeten Fundamentalisten Erdogan, der an einer schleichenden Islamisierung der Türkei arbeite.

Greifbare Beweise für solche Absichten hat Erdogan in seinen mehr als sieben Regierungsjahren allerdings nicht geliefert. Aber auch in der EU ist dieser Verdacht virulent. Schon als Brüssel vor fünf Jahren Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnahm, geschah das ohne Konsens darüber, ob die Türkei am Ende der Verhandlungen auch tatsächlich Mitglied werden darf. Unterhändler beider Seiten treten seitdem auf der Stelle. Ganze Verhandlungskapitel sind gesperrt durch ein Veto Zyperns (wegen des Streits um die geteilte Insel), Griechenlands (aus Solidarität mit Zypern) oder Frankreichs, wegen grundsätzlicher Bedenken, ob die Türkei zu Europa passt.

Auch in der Türkei hat die Europa-Begeisterung merklich nachgelassen. Nur noch 38 Prozent der Türken befürworten einen Beitritt ihres Landes. Vor fünf Jahren waren es noch 73 Prozent. Gleichzeitig hat sich die Türkei politisch zur regionalen Ordnungsmacht im Nahen Osten und wirtschaftlich zum anatolischen Tiger verwandelt. Inzwischen habe die Türkei mehr Einfluss in der Welt als jeder EU-Staat für sich alleine genommen, sagte der finnische Außenminister Alexander Stubb erst vor wenigen Tagen. Aber Ankara setzt diesen Einfluss nicht immer im Sinne des Westens ein. Der versuchte Atomkompromiss der Türken mit dem Iran und die jüngste Krise im Verhältnis mit Israel haben in Europa und den USA die Befürchtung ausgelöst, die Türkei drifte vom Westen weg.

Thema bei dem Gespräch im Kanzleramt sollen zudem sicherheitspolitische Fragen und die deutsch-türkischen Beziehungen sein. Die sind ebenso störanfällig wie wichtig. So gab es schon bei Merkels Visite in Ankara und Istanbul Anfang April Differenzen vor allem in der Bildungspolitik. Erdogan hatte gefordert, türkische Schulen in der Bundesrepublik einzurichten, und damit in Deutschland Wirbel ausgelöst. Bei seinem letzten Besuch vor zwei Jahren sorgte er für Empörung, indem er vor einer Assimilierung der Türken in der Bundesrepublik warnte. Dies wäre ein "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Immerhin leben in der Bundesrepublik 1,7 Millionen türkische Staatsbürger und weitere 1,3 Millionen Deutsche türkischer Herkunft. Da liegt es auf der Hand, dass sich Erdogan für diese Bevölkerungsgruppe - alles potenzielle Wähler - besonders interessiert.

Das Thema Integration dürfte angesichts der aufgeheizten Debatte um die Rolle des Islam in Deutschland auch diesmal eine Rolle spielen. "Ich persönlich vertrete die These, dass wir Imame brauchen, die in Deutschland ausgebildet sind, die hier ihre gesellschaftliche Verwurzelung haben", hatte Merkel in der Diskussion über die Rede von Bundespräsident Christian Wulff zur Integration betont. Wulff, der am 18. Oktober zu einem Besuch in der Türkei erwartet wird, hat kürzlich übrigens angemahnt, die Gespräche mit der Türkei über einen EU-Beitritt "ergebnisoffen" zu führen. Erdogan wird das gern gehört haben.