Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) über Stuttgart 21, die Vorteile längerer Atom-Laufzeiten und seine Reise nach China.

Berlin. Anfangs wurde er unterschätzt: Rainer Brüderle gehörte nicht zu den Ministern, die beim Start der schwarz-gelben Koalition mit Vorschusslorbeeren bedacht wurden. Dann kam der wirtschaftliche Aufschwung und ein zähes Ringen um ein neues Energiekonzept, bei dem sich Brüderle am Ende als Sieger fühlen durfte. Im Abendlatt-Interview stellt der Wirtschaftsminister eine positive Entwicklung am Energiemarkt in Aussicht.

Hamburger Abendblatt:

Herr Minister, wie fühlt man sich als Held der Atomindustrie?

Rainer Brüderle:

Es geht nicht um Befindlichkeiten, sondern um unsere Energieversorgung in den nächsten Jahrzehnten. Noch keine Bundesregierung vor uns hat es geschafft, ein so umfassendes und wegweisendes Energiekonzept vorzulegen. Mit der Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken bauen wir eine Brücke ins Zeitalter der erneuerbaren Energien, wir bauen die Erneuerbaren konsequent aus, und wir erhöhen die Energieeffizienz. Mit diesem Zukunftskonzept sind wir allen anderen Industrienationen voraus.

Sie haben eine deutliche Verlängerung der Atom-Laufzeiten durchgesetzt - und den Energieversorgern zusätzliche Milliardengewinne beschert ...

Brüderle:

Wir schöpfen mehr als die Hälfte der zusätzlichen Gewinne ab.

Nur ein Bruchteil davon wird in erneuerbare Quellen investiert. Wer soll Ihnen abnehmen, dass Sie eine Energiewende einleiten?

Brüderle:

Aus dem Energie- und Klimafonds können wir schon im kommenden Jahr 300 Millionen Euro zusätzlich in erneuerbare Energien und Energieeffizienz investieren. Ab 2013 wird der Fonds jährlich rund 2,5 Milliarden Euro schwer sein. Das ist beachtlich.

Wird Strom jetzt billiger?

Brüderle:

Längere Atom-Laufzeiten wirken dämpfend auf die Strompreise. Ob die Preise sinken oder nur weniger stark ansteigen, hängt von der Entwicklung des Strommarkts ab.

Der Energiekonzern Vattenfall sagt: Strom wird noch teurer.

Brüderle:

Am Ende entscheiden Angebot und Nachfrage. Klar ist: Ohne eine Laufzeitverlängerung wären die Strompreise auf jeden Fall gestiegen.

Es gibt erhebliche Zweifel, ob eine Laufzeit-Verlängerung ohne Beteiligung des Bundesrats mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Regierung geht ein erhebliches Risiko ein ...

Brüderle:

Das glaube ich nicht. Die Verfassungsressorts haben das eingehend geprüft. Der Bundesrat muss der Laufzeitverlängerung nicht zustimmen.

Neue Atomkraftwerke sind in Deutschland - anders als in anderen Industriestaaten - ein für alle Mal tabu?

Brüderle:

Ich kenne niemanden, der ein Kernkraftwerk in Deutschland bauen will.

Eine klare Absage klingt anders.

Brüderle:

Wir haben nicht die Absicht, in Deutschland neue Kernkraftwerke zu genehmigen. Der Koalitionsvertrag bekennt sich klar zum Neubauverbot von Kernkraftwerken. Für künftige Regierungen kann ich nicht sprechen.

Garantieren Sie für die Sicherheit aller Meiler?

Brüderle:

Umweltminister Röttgen, der dafür zuständig ist, wird alle Sicherheitsfragen angehen - anders als die rot-grüne Regierung, die nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nichts unternommen hat.

Sie wollen den Salzstock im niedersächsischen Gorleben zum Endlager für hoch radioaktive Abfälle machen. Warum sagen Sie das eigentlich nicht offen?

Brüderle:

Gorleben wird jetzt weiter erkundet. Ob sich der Salzstock eignet, wird sich zeigen.

Warum erkunden Sie dann nur einen Standort?

Brüderle:

Die Erkundung ist weit fortgeschritten. Viel spricht dafür, dass Gorleben ein geeignetes Endlager sein könnte.

Dürfen die Bürger dabei mitreden?

Brüderle:

Wir halten uns an das Atomrecht. Ein Planfeststellungsverfahren ist Voraussetzung für die Errichtung und den Betrieb eines Endlagers in Gorleben. Dazu gehört eine Umweltverträglichkeitsprüfung genauso wie die Beteiligung der Bürger.

Der nächste Castortransport steht bevor. Mit Gorleben könnte es der Regierung noch ergehen wie mit Stuttgart 21 ...

Brüderle:

Wir müssen als Land Entscheidungen treffen können - in einem offenen, korrekten Verfahren. Wenn Entscheidungen getroffen sind, muss man sie auch umsetzen. Sonst wird unser parlamentarisches System beschädigt. Eine der Lehren von Stuttgart ist, dass man die Notwendigkeit von Großprojekten erklären und die Bürger mitnehmen muss.

Haben Sie Verständnis für die Menschen, die gegen das Bahnprojekt in Stuttgart demonstrieren?

Brüderle:

Stuttgart 21 ist ein großes Projekt, das offensichtlich noch nicht ausreichend kommuniziert wurde. Manche Bürger fühlen sich und ihre Sorgen anscheinend nicht ernst genug genommen. Aber der Widerstand hat auch einen tieferen Grund.

Der wäre?

Brüderle:

Entscheidungen fallen zum Teil losgelöst von der Lebenswirklichkeit der Bürger, werden immer komplizierter. Verantwortung lässt sich nicht mehr klar zuordnen. Das überfordert viele Menschen. Demokratie bedeutet Teilhabe.

Was spricht dann gegen einen Volksentscheid über Stuttgart 21?

Brüderle:

Alle zuständigen Parlamente haben bereits entschieden. Damit ist das Projekt demokratisch legitimiert.

Werden große Infrastrukturprojekte in Deutschland undurchsetzbar?

Brüderle:

Das darf nicht passieren. Deswegen muss Stuttgart 21 auch gebaut werden. Ich schließe nicht aus, dass am Ende des Dialogprozesses eine veränderte Planung stehen wird. Aber die Modernisierung unserer Infrastruktur ist dringend notwendig. Wir dürfen sie nicht blockieren, etwa durch zu lange Planungsprozesse.

Wie kann in Stuttgart eine Lösung noch gelingen?

Brüderle:

Wir brauchen eine neutrale Persönlichkeit, die zwischen den verhärteten Fronten ausgleichen kann. Ich denke an einen Schlichter wie bei Tarifkonflikten. Das ist keine leichte Aufgabe.

Wen haben Sie im Auge?

Brüderle:

Der Kreis der geeigneten Personen ist überschaubar. Es sollte niemand aus dem politischen Tagesgeschäft sein.

Sie reisen in der kommenden Woche nach China. Infrastrukturprojekte pflegt man dort ohne große Rücksichtnahme durchzusetzen. Kann Bürgerbeteiligung in Deutschland zum Wettbewerbsnachteil werden?

Brüderle:

Nein. Ein Staat ist nicht stark, wenn er starke Polizeikräfte hat. Ein Staat ist stark, wenn er seine Bürger teilhaben lässt und sie ernst nimmt.

Chinas Einfluss in Europa wächst. Jüngstes Beispiel ist der Erwerb griechischer Staatsanleihen. Anlass zur Sorge?

Brüderle:

Gegen eine Zusammenarbeit zwischen Griechenland und China ist nichts einzuwenden. Ich gehe davon aus, dass das in beidseitigem Interesse ist.

China kauft auch europäische Automarken wie Volvo und Fußballklubs wie den FC Liverpool ...

Brüderle:

Was soll daran grundsätzlich falsch sein? Wir sind offen für chinesisches Kapital auch in Deutschland. Unsere Unternehmen investieren Milliarden in China. Das sollte doch keine Einbahnstraße sein. Bisher sind die chinesischen Investitionen in Deutschland nur ein Bruchteil der deutschen Investitionen in China. Freier Handel und offene Grenzen nutzen beiden Seiten. Protektionismus wäre fehl am Platz.

Wirtschaftsspionage alarmiert die deutschen Sicherheitsbehörden. Hackerangriffe aus China nehmen zu. Werden Sie in Peking darauf zu sprechen kommen?

Brüderle:

Das ist ein ernsthaftes Problem, das ich ansprechen werde. Wir sind an einer fairen Zusammenarbeit interessiert. Deutschland stellt technologisches Wissen bereit und bildet Arbeitskräfte aus. Umgekehrt erwarten wir, dass die chinesischen Unternehmen keine Produktpiraterie betreiben. Angriffe auf die Computersysteme deutscher Unternehmen müssen unterbleiben. Da muss man einen Riegel vorschieben.

Hat Deutschland Chancen, den Titel des Exportweltmeisters von China zurückzuerobern?

Brüderle:

Pro Kopf sind die Deutschen unschlagbar. Aber es geht mir nicht um Titel. Wichtig ist, dass in Deutschland neuer Wohlstand entsteht. Ob wir Exportweltmeister oder Vizeweltmeister werden, ist mir dabei nicht so wichtig.