In Bremen stellt Bundespräsident Christian Wulff seine Agenda vor: Für ihn ist die Einheit der Deutschen längst nicht beendet.

Bremen. Still ist es, als Christian Wulff mit seiner Frau Bettina die Halle betritt. Für eine Sekunde meint man eine Irritation in den Blicken des Paares zu erkennen. 1400 Menschen stehen, aber sie klatschen nicht. Sie verharren in Lautlosigkeit. Und regungslos beobachten sie, wie das Präsidentenpaar ein wenig zu schnell nach vorn schreitet und seine Plätze in der ersten Reihe sucht. Blaue und graue Vorhänge verdecken rundum die steil aufsteigenden Tribünen. Es soll festlich aussehen in der "Bremen Arena" .

Ausgerechnet Bremen, das kleinste Bundesland, und dann auch eine schnöde Mehrzweckhalle. Große Worte kommen an großen, an bedeutsamen Orten besser zur Geltung, will man meinen. Aber Wulff, der noch neue Bundespräsident, hat sich Bremen ausgesucht.

Ihm ging es allein um das Datum. Der 20. Jahrestag der deutschen Einheit sollte seine Bühne werden. Auch das Thema Integration hatte er früh festgelegt: Es sollte das Leitthema seiner Präsidentschaft werden, hatte Wulff schon vor seiner Wahl am 30. Juni versprochen. Kurz zuvor hatte er mit Aygül Özkan die erste türkischstämmige Politikerin zur Ministerin in Hannover gemacht. Und am 2. Juli, am Tag seiner Vereidigung, sprach Wulff von der "bunten Republik Deutschland". Danach verstummte er zu diesem Thema. Im Schloss Bellevue begann man, an der Rede für das Einheitsjubiläum zu feilen. Aber wohl erst während des Streits um den früheren Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin und seine Integrationsthesen konnte Wulff erahnen, dass die Erwartungen an seine Worte ins Unermessliche steigen würden.

In seinen ersten Sätzen ist dieser Druck noch hörbar. Die Stimme wirkt belegt, die Bewegungen sind noch hölzern. Zehn Minuten lang spricht der Präsident im Rückblick. Es seien die Ostdeutschen gewesen, die den allergrößten Teil des Umbruchs geschultert hätten, "damit unser Land wieder zusammenfand". Wulff meint, die "unglaubliche Bereitschaft zur Veränderung" der Ostdeutschen sei nicht ausreichend gewürdigt worden. Es ist das erste Ausrufezeichen seiner Rede. Von da an widmet er sich seinem eigentlichen Thema. Er kommt zur Integration. Er lockert sich, die Stimme wird fester. Wulff wird zum Integrationspräsidenten. Zugehörigkeit dürfe nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt werden, mahnt er. Im Sinne der christlich-jüdischen Geschichte gehörten das Christentum und das Judentum zweifelsfrei zu Deutschland. "Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland", sagt Wulff.

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Aber "weit genug" bei der Integration ist ihm Deutschland noch lange nicht. Er wünscht sich Integrations- und Sprachkurse für die ganze Familie, Unterrichtsangebote in Muttersprachen und islamischen Religionsunterricht von in Deutschland ausgebildeten Lehrern. Auch bedürfe es mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten, etwa bei Schulschwänzern. Sarrazin erwähnt er in keiner Silbe, spricht nur von der "derzeitigen Debatte" und Briefen, die ihn erreicht hätten. "Wenn mir deutsche Musliminnen und Muslime schreiben: 'Sie sind unser Präsident', dann antworte ich aus vollem Herzen: Ja, natürlich bin ich Ihr Präsident! Mit der gleichen Leidenschaft und Überzeugung, mit der ich der Präsident aller Menschen bin, die hier in Deutschland leben." Der Ruf der Einheit "Wir sind ein Volk!" müsse heute eine Einladung sein an alle, die in diesem Land leben. "Eine Einladung, die nicht gegründet ist auf Beliebigkeit, sondern auf Werten, die unser Land stark gemacht haben."

Immer wieder unterbricht Applaus seine Rede. Wenn dieser Auftritt zugleich eine Selbsterklärung, ein Einblick in sein Amtsverständnis, eine programmatische Wegweisung sein sollte, dann sind die Botschaften - zumindest in der Halle - angekommen.

Doch wie weit das Echo eines Bundespräsidenten reicht, ist unsicherer denn je. Selten zuvor waren die Deutschen derart im Unklaren darüber, wofür eigentlich dieses Amt seit dem unerklärlichen Rücktritt Horst Köhlers noch stehen soll.

Allein an Köhler liegt das nicht. Seit seinem Amtsantritt wirkte auch bei Wulff manche Aktion und manches Gesagte unüberlegt. Natürlich tat Wulff das Übliche: Er empfing Staatsoberhäupter, verlieh Bundesverdienstskreuze, eröffnete Konzerte und Ausstellungen. Und man befand allenthalben, das junge Staatsoberhaupt sei sehr vorzeigbar auf dem diplomatischen Parkett. Aber Wulff zog vor allem Kritik auf sich, für andere Dinge, die er auch tat. Nach der Wahl zog er sich für einen Urlaub mit Gattin Bettina auf Mallorca auf das Anwesen des Geschäftsmanns Carsten Maschmeyer zurück. Die Opposition hielt ihm dafür mangelnde Sensibilität bei der Wahl des Urlaubsortes vor. Wulff half es nicht einmal, dass er den Aufenthalt selbst bezahlt hatte.

Dann kam das Unglück auf der Loveparade. Wulff äußerte sich über den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland in einer Weise, die wie ein Drängen zum Rücktritt wahrgenommen wurde. Darf so etwas ein Bundespräsident tun? Die nächste als "Einmischung" kritisierte Äußerung folgte, nachdem sich bereits Bundeskanzlerin Angela Merkel und mehrere Minister mehr als deutlich von Thilo Sarrazins Integrationsthesen distanziert hatten. Wulff legte nach: Er glaube, dass jetzt der Vorstand der Bundesbank schon einiges tun könne, "damit die Diskussion Deutschland nicht schadet". Wulff wollte mahnen, aber tatsächlich forderte er den Rausschmiss Sarrazins. Dann hieß es, Wulffs Beamte hätten im Hinterzimmer die erhöhte Pension für Sarrazin ausgehandelt und so den freiwilligen Rücktritt des Bankvorstands ermöglicht. Und in Niedersachsen fragt man sich inzwischen, was Wulff als Ministerpräsident von einer angeblich illegalen, jahrelangen Wahlkampfhilfe der Wolfsburger Stadtwerke für die CDU wusste. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Wulffs 3. Oktober musste also auch ein Befreiungsschlag werden. Ein Tag, an dem er seine Stärken ausspielt. Und nicht nur das. Wulffs 3. Oktober musste der Tag seiner tatsächlichen Präsidentwerdung sein. Vor dem Bremer Auftritt wusste die Bevölkerung noch nicht recht, wie Wulff eigentlich denkt. Dazu kam die veränderte Wahrnehmung des Amtes: Es ist neu für die Deutschen, dass man als Bundespräsident ohne logischen Grund zurücktreten und damit dem Amt einen fast irreparabel scheinenden Schaden zufügen kann.

Als neues Staatsoberhaupt hätte Wulff sich darauf konzentrieren können, das Amt einfach zu reparieren - mit Ausdauer, wohligen Worten, vielen Reisen, höflicher Repräsentation. Aber der Wulff, der in Bremen zu den Deutschen spricht, hat offenbar Größeres vor. Die Deutschen hätten am 3. Oktober 1990 eine einmalige Chance zum Neuanfang bekommen, und sie hätten sie genutzt, setzt er an. "Aber wir sind nicht fertig." Es gehe darum, dieses Land zu einem Zuhause zu machen - für alle. Die Vollendung eines unfertigen Landes voranzutreiben - darin hat Wulff seine Aufgabe gefunden. An diesem 3. Oktober ist Wulff nicht nur der Verbindliche, wie man ihn als Ministerpräsident kannte. Er will mehr sein: der Verbindende, der vorderste Kämpfer einer neuen deutschen Einheit, in der es nicht mehr um Ost oder West, sondern ums Deutschsein an sich geht.

Der Festakt endet, wie er begonnen hat. Wulff und seine Frau gehen - wieder etwas zu eilig - durch dasselbe Tor, durch das sie gekommen sind. Diesmal begleitet sie anhaltender Applaus. Die 1400 Gäste verabschieden einen Präsidenten, von dem sie nun klarer wissen, worum es ihm geht. Kaum haben auch die Zuhörer die Halle verlassen, beginnen die Aufräumarbeiten.

In einer Woche werden auf diesem Boden die deutschen Volleyball-Frauen in einem Testspiel auf die türkische Nationalmannschaft spielen. Keine andere Halle hätte besser zu Wulff gepasst.