Grünen-Chef Özdemir kündigt Widerstand gegen Entscheidung der Koalition an. DGB: Beschluss lässt Respekt für Betroffene vermissen.

Hamburg. Die Entscheidung der Koalition, den Hartz-IV-Regelsatz nur geringfügig zu erhöhen , hat Opposition und Gewerkschaften empört. Grünen-Chef Cem Özdemir kündigte starken Widerstand dagegen an. "Die Bundesregierung hat ein unmoralisches Koordinatensystem", sagte Özdemir dem Hamburger Abendblatt. "Wieder einmal fehlt Angela Merkel in dieser Debatte der soziale Kompass, und wieder muss sie Horst Seehofe r und Guido Westerwelle hinterherlaufen."

Im Berliner Kanzleramt hatten gestern die Spitzen der Regierungskoalition die Neuregelung der Hartz-IV-Leistungen beschlossen und dem Vorschlag von Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) zugestimmt, die Regelsätze für Hartz-IV-Bezieher um fünf Euro auf 364 Euro steigen zu lassen. Diese Anhebung entspräche einer Erhöhung um 1,4 Prozent und läge knapp über der Preissteigerungsrate.

Nach Angaben von der Leyens sind bei der Neuberechnung Ausgaben für Tabak und Alkohol, die bislang mit rund 18 Euro pro Monat veranschlagt wurden, nicht mehr enthalten. Neu einbezogen werden dagegen Ausgaben etwa für die Praxisgebühr und das Internet. Die Sätze für Kinder will Schwarz-Gelb vorerst nicht ändern. Die Geldleistungen hätten nach den neuen statistischen Berechnungen eigentlich sinken müssen, sagte von der Leyen. Das habe sie "überrascht und auch sprachlos gemacht". Die Koalitionsspitzen hätten aber entschieden, diese Sätze beizubehalten. Nach Angaben aus Koalitionskreisen soll dies in den kommenden drei Jahren jedoch überprüft werden.

Beschlossen wurde zudem, die Bildungschancen für Kinder zu verbessern. Dies soll durch Sachleistungen geschehen, "so unbürokratisch wie möglich", wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sagte. Die Kanzlerin nannte den neuen Bedarfssatz eine "Lösung, die sachgerecht ist". CSU-Chef Horst Seehofer sagte, über die Details der Sachleistungen "wird in den nächsten Tagen noch zu reden sein". Für das Bildungspaket sind im Haushalt bereits 480 Millionen Euro eingeplant. Die Bundesländer sollen selber entscheiden dürfen, ob sie das Geld für die von der Arbeitsministerin favorisiert Bildungschipkarte oder für eine andere Lösung verwenden.

+++ Hartz IV soll um fünf Euro erhöht werden - scharfe Kritik +++

Die Neubemessung des Regelbedarfs war der Regierung vom Bundesverfassungsgericht aufgetragen worden. Am 20. Oktober soll der Gesetzentwurf im Kabinett beraten werden. Bis dahin soll eine Arbeitsgruppe auch eine Lösung finden, wie die Zuverdienstregeln für Hartz-IV-Empfänger geändert werden sollen. In diesem Punkt hatten sich die Koalitionspartner gestern nicht einig werden können. Die FDP hatte eigentlich einen Grundsatzbeschluss dazu durchsetzen wollen, damit Langzeitarbeitslose schneller Arbeit finden.

Grünen-Chef Özdemir sagte, die Koalition habe hinter verschlossenen Türen ein unwürdiges Spiel getrieben, damit am Ende der politisch gewollte Betrag herauskomme, kritisierte der Parteivorsitzende. "So hat das Verfassungsgericht nicht entschieden, und so werden wir diese Entscheidung nicht hinnehmen. Diese Rechnung wird genau geprüft, und dann entscheidet der Bundesrat, in dem Schwarz-Gelb keine Mehrheit mehr hat." Kinder dürften nicht die Verlierer "dieser Mauschelei" sein, forderte Özdemir. "Schwarz-Gelb bleibt ihnen nicht nur Geld, sondern auch ein Förderkonzept schuldig." Es könne nicht sein, dass bei Schwarz-Gelb populistische Debatten die Entscheidung herbeiführten und den Blick auf eine nüchterne Analyse und den dringend nötigen Ausbau der Infrastruktur verstellten. "Die Bundesregierung sollte endlich für ein flächendeckendes Angebot von Kindergärten und Ganztagsschulen mit kostenlosem Mittagessen für bedürftige Kinder sorgen", verlangte er.

DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach sagte dem Abendblatt, der Beschluss der Koalition lasse jeden Respekt gegenüber den Betroffenen und der Entscheidung des Verfassungsgerichts vermissen. "Die neuen Regelsätze sind das mit aller Gewalt heruntergerechnete Ergebnis politischer Mauschelei. Aber Menschenwürde hat ihre Grenze nicht an der Kassenlage."

Laut Buntenbach habe das Bundesverfassungsgericht gerade für Kinder mit Nachdruck Verbesserungen gefordert - auch in der Höhe der Regelsätze. "Wir fordern die Regierung dringend auf, in einem seriösen und transparenten Verfahren dafür Sorge zu tragen, dass das Existenzminimum nach Maßgabe der Menschenwürde ausgestaltet wird", sagte Buntenbach. Die Bundesregierung solle umgehend eine unabhängige Sachverständigenkommission einsetzen, die dem Gesetzgeber Vorschläge unterbreite, verlangte Buntenbach.

Überraschend ist die Erhöhung der Regelsätze um fünf Euro nicht. Schon im Bericht zum Existenzminimum 2010 ist eine Anhebung der Sozialleistungen um 2,3 Prozent - und damit auf 364 Euro im Monat - ausgewiesen. Der Bericht des Bundesfinanzministeriums wurde im Jahr 2008 erstellt, also noch deutlich vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine Neugestaltung von Hartz IV. Doch weil auch die Renten 2010 wegen der Finanzkrise nicht stiegen, wurden auch die Hartz-Sätze nicht angepasst.

Linken-Chef Klaus Ernst hält das für ein "abgekartetes Spiel" und eine "Kungelei" der Regierung. Das Ergebnis der Neugestaltung habe schon lange festgestanden, sagte Ernst dem Abendblatt. Und es treffe auch die Steuerzahler. "Mit dem Regelsatz von 364 Euro und unveränderten Kinderregelsätzen wird nämlich auch festgeschrieben, dass im Jahr 2011 weder der Grundsteuerfreibetrag noch der Kinderfreibetrag oder das Kindergeld steigt", kritisierte Ernst. Das heiße bei steigenden Einkommen weniger Netto vom Brutto für alle. Ernst bekräftigte die Forderung seiner Partei nach einer Klage vor dem Verfassungsgericht: "Wenn das durchgeht, werden wir dagegen vor dem Verfassungsgericht klagen."