Der Ex-Minister ist zurück und fordert in seiner Rede beim SPD-Parteitag ein stärkeres Wirtschaftsprofil - und bringt sich damit selbst ins Spiel.

Berlin. Manchmal sind es die kleinen Begebenheiten, die erkennen lassen, wie Anschauungen sich in kurzer Zeit ändern können. Als Peer Steinbrück den Versuch unternimmt, zu seinem Platz im Auditorium zu gehen, stellt sich ihm ein Delegierter aus Nordrhein-Westfalen in den Weg. Der Mann hält das neue Steinbrück-Buch stolz in seinen Händen. Der frühere Finanzminister und frühere SPD-Vize soll es signieren. Steinbrück hat kein Staatsamt mehr, kein Parteiamt mehr, aber sein Autogramm ist wieder etwas wert. Vor einem Jahr galt Steinbrück in der SPD als Mitschuldiger des desaströsen 23-Prozent-Ergebnisses bei der Bundestagswahl. Aber der parteiinterne Blick auf den 63-Jährigen hat sich gewandelt. Man will ihm wieder zuhören. Ein wichtigeres Forum als den Parteitag kann es dafür kaum geben. Und Steinbrück hat die Einladung von Parteichef Sigmar Gabriel angenommen, im ausrangierten Berliner Postbahnhof zur Wirtschafts- und Finanzpolitik zu sprechen.

Fast entschuldigend sagt er am Anfang: "Das ist keine Bewerbung." Er habe auch keinen Phantomschmerz und leide auch nicht am Verlust des Ministeramts. Steinbrück, der plötzlich als potenzieller Kanzlerkandidat für 2013 gehandelt wird, will bescheiden bleiben. Aber er bleibt nicht bescheiden. Er ist gekommen, um seine Meinung zu sagen. "Es reicht nicht, allein über die Interessen von Rentnern und Hartz-IV-Empfängern zu reden. Das ist zu wenig", ruft er den 500 Zuhörern zu. Wenn die SPD Volkspartei bleiben und bei Wahlen wieder dauerhaft über 30 Prozent gewinnen wolle, müsse die Partei ihre inhaltliche Basis erweitern und attraktiver machen. Dazu gehörten auch völlig unterschiedliche Charaktere in der Partei. Und er betont: "Da kann man einen Spannungsbogen durchaus gebrauchen." Sozialpolitische Kompetenz allein reiche nicht, um Wahlen zu gewinnen, warnt der Ex-Minister. Die SPD habe dann Wahlkämpfe gewonnen, wenn sie wirtschaftliche Kompetenz inhaltlich und personell darstellen konnte. Gerade auch für den Mittelstand, Existenzgründer und junge Leute müssten glaubwürdige Angebote gemacht werden. Eine Bewerbung soll die Rede nicht sein, aber sie ist mindestens ein Signal: Steinbrück macht der Linkskurs seiner Partei große Sorgen. Und er steht bereit, den Kurs zu korrigieren.

Ein Jahr nach der Wahl beginnt in der SPD aber auch die Suche nach der Zukunftsaufstellung. Die Rangfolge dieser Aufstellung ist noch längst geklärt. Gabriel hätte als Parteichef den Erstzugriff auf die Kanzlerkandidatur. Doch darauf, dass er den uneingeschränkten Rückhalt der Partei hätte, kann der Ex-Umweltminister nicht zählen. Zu unklar ist noch das Selbstverständnis der Partei im Jahr eins nach der Horror-Wahl. Zu unklar auch die Machtverteilung: Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, das beharrliche Korrektiv des zur Unstetigkeit neigenden Vorsitzenden, wird vermisst in diesen Wochen. Noch erholt er sich von der Nierenspende an seine Frau. Wenn Steinmeier im Oktober zurückkehrt, wird sich die Machtstruktur bei den Genossen verschoben haben.

Das liegt allein an Steinbrück. Ein Jahr hatte er geschwiegen und die SPD als Hinterbänkler beobachtet. Dann kam der September, Steinbrück veröffentlichte ein Buch, in dem er auf seine Leistungen in der dramatischsten Phase der Finanzkrise verweist, und er kritisierte in Interviews den Kurs seiner Partei. Wenn Steinbrück gefragt wurde, ob er denn - theoretisch - sich vorstellen könne, Kanzlerkandidat zu werden, dann antwortete er: Wenn er gebeten werde, könne er es sich vorstellen. Er werde jedoch nicht gebeten, war Steinbrück zuletzt noch überzeugt. Ignorieren kann die SPD ihn nicht mehr. SPD-Vize Olaf Scholz ist beeindruckt nach Steinbrücks Auftritt. "Er ist einer der Politiker von Format in der SPD. Und es hat dem Parteitag genützt, dass er dort gesprochen hat", so Scholz gegenüber dem Abendblatt.

Kanzlerkandidat? „Wenn man mich fragen würde..."

Gabriel selbst erwähnt in seiner anderthalbstündigen Grundsatzrede den früheren Finanzminister gleich mehrfach. Der Blick zurück zu den Regierungsjahren soll der SPD nicht mehr wehtun, diese Botschaft ist Gabriel wichtig. Darum bittet er auch, die Partei das Streitthema Rente mit 67 differenziert zu betrachten. Am Ende werde es "nicht darum gehen, die Rente mit 67 abzuschaffen, und auch nicht darum, sie für alle zu verordnen", sagt der SPD-Chef. "Wir machen die Rente mit 67 nicht mal eben rückgängig."

Der Rest ist Angriff: Gabriel nennt eine rot-grüne Regierung als Ziel für 2013. Aber wie umgehen mit den Grünen, der schärfsten Konkurrenz bei der Frage, wer eigentlich die mächtigere Oppositionspartei ist? "Die Grünen sind jetzt gerade das, was die FDP im Jahr 2009 war", ist Gabriel überzeugt. Sie seien "eine Projektionsfläche für alle möglichen, sich auch widersprechenden Wünsche". Wo die Grünen regierten, verlören sie wie die FDP schnell Wählerstimmen. Aber Gabriel relativiert auch die verbesserte Umfragesituation seiner Partei. Er gibt zu, dass die SPD auch von der Schwäche der Bundesregierung profitiere. "Am Anfang dachten wir noch, es sei schlimm, dass sie gar nicht regieren. Heute wissen wir: Noch schlimmer ist es, wenn die wirklich regieren", ruft er.

Später bekennt ein Genosse, der nicht genannt werden will: Er habe Bedenken gehabt, mit Gabriel würde bei seiner Rede wieder der Populismus zu sehr durchgehen. Aber es sei gut gegangen. Ob er sich Gabriel als Kanzler vorstellen könne? "Abwarten. Zum Glück haben wir noch drei Jahre."