Das Undenkbare ist denkbar geworden: Der grüne Jürgen Trittin und der rote Peer Steinbrück könnten nach Umfragen Kandidaten werden.

Hamburg. Man denke sich einmal in den Herbst 2009 zurück, an den Abend der Bundestagswahl , als die SPD mit 23 Prozent eine Katastrophe erlebte und die Grünen trotz respektabler 10,7 Prozent nur fünftstärkste Kraft wurden. Dann stelle man sich vor, jemand bei den Grünen hätte damals laut über Jürgen Trittin als nächsten Kanzlerkandidaten nachgedacht , und bei den Sozialdemokraten hätte ein Genosse für 2013 einen Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück ins Spiel gebracht. Diejenigen hätten in ihren Parteien ein Ausschlussverfahren wegen Torheit riskiert.

Heute muss man diese Stimmen ernst nehmen. Trittin, 56, Fraktionschef und als früherer Bundesumweltminister Vater des rot-grünen Atomausstiegs und des Dosenpfands, und Steinbrück, 63, Ex-Bundesfinanzminister, Ex-Ministerpräsident, geschäftiger Buchautor und Talkshowgast, werden als potenzielle Kanzlerkandidaten gehandelt. Nichts daran ist absurd: Sie sind schlicht die Profiteure eines merkwürdigen politischen Jahres. Steinbrück profitiert von einer noch immer ungefestigt wirkenden, nach links driftenden SPD und eines Parteichefs, der den Ruch des Unseriösen nicht abzustreifen vermag. Wer an 2013 denkt und sich fragt, wer eigentlich Kanzlerkandidat der SPD werden soll, der kann bei den Personalien Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier ins Grübeln kommen. Gabriel ist sprunghaft und Fraktionschef Steinmeier kein sonderlich guter Wahlkämpfer. Tut sich die SPD einen Gefallen, wenn sie einen von beiden ins Rennen schickt? Steinbrück mag sich diese Frage gestellt haben. Die Antwort hat er bislang für sich behalten. Dabei war es Gabriel selbst, der vor Monaten betonte, er traue Steinbrück "jedes politische Amt in Deutschland sofort zu". Steinbrück traut sich immerhin zu sagen, er stünde zur Verfügung, "wenn ich gerufen würde". Auf jeden Fall hat er sich zurückgemeldet von der Hinterbank des Bundestags - weil er genervt ist. Dem in Hamburg geborenen Architektensohn redet die SPD zu viel über Hartz-IV-Empfänger und Rentner, zu wenig über Existenzgründer und den Mittelstand. Er sagt, dass die SPD diese Menschen repräsentieren müsse. Ein Satz wie eine Bewerbung. Von Steinbrücks jüngerem Bruder Birger stammt die Erkenntnis, der Ex-Minister könne nicht verlieren. Zweimal wurde Steinbrück abgewählt: 2005 in Nordrhein-Westfalen, 2009 im Führungsteam der SPD. Auch das nervt Steinbrück.

Jürgen Trittins derzeitiger Profit ist ein anderer. Es liegt eine Woche hinter dem Land, in dem - demoskopisch betrachtet - aus zwei plötzlich drei große Parteien geworden sind. 24 Prozent würden laut Forsa die Grünen wählen. Genauso viele wie die SPD. Trittins Ziel war es bislang, 2013 Vizekanzler und Außenminister zu werden. Aber nun muss er umdenken Der Urgrüne erlebt im Zuge der schwarz-gelben Laufzeitverlängerungen nicht nur eine zweite Anti-AKW-Welle, ihn selbst spült diese Welle in eine neue Machtposition. In der Partei ist er unbestritten die Nummer eins. Sollte sich Kofraktionschefin Renate Künast zu einer Bürgermeister-Kandidatur in Berlin durchringen, wird seine Machtposition noch fester. Sogar die Öffentlichkeit scheint den Kaufmannssohn aus Bremen heute anders wahrzunehmen als früher. Inzwischen findet er sich regelmäßig unter den 15 beliebtesten Politikern der Republik wieder. Für einen linken Bürgerschreck oder Öko-Stalinisten hält ihn niemand mehr.

+++ Renate Künast im Interview: "Ein grüner Kanzlerkandidat? Nicht abheben!"+++

Die Hanseaten Trittin und Steinbrück, sie genießen den Ruf, unbiegsam und authentisch zu sein. Ihre klare Sprache kommt an. Das Gespür für große Auftritte ist beiden gegeben. Geliebt werden sie aber nicht in ihren Parteien. Manche halten sie für unnahbare, arrogante Kotzbrocken. Beiden könnte man nachsagen, dass sie ihre beste Zeit hinter sich haben. Zumindest wissen sie, wie es sich anfühlt zu verlieren, und wie es ist, abgemeldet zu sein. Von sich sagen sie, dass sie noch etwas vorhaben.

Steinbrück kommt da der SPD-Bundesparteitag am Sonntag gerade recht. Er wird zu den Themen Wirtschaft und Finanzen sprechen. Das gefällt nicht allen. Die Jusos sind entsetzt. "Wir haben immer gesagt, dass eine Erneuerung sich auch personell deutlich machen muss." Daher sei man "mehr als verwundert", stänkerte Juso-Chef Sascha Vogt. Was Vogt vielleicht übersieht: Mit Steinbrücks Auftritt könnte der Neuanfang erst beginnen.

Nicht nur Steinbrück, auch Trittin hat noch eine Rechnung offen: Trittin mit der Regierung, der Steinbrück mit sich selbst. Der eine will den Atomausstieg endgültig besiegeln, der andere will beweisen, dass er siegen kann.