Christian Wulff ist neues Staatsoberhaupt. Eine buntere Republik fordert der neue und zehnte Bundespräsident in seiner Antrittsrede in Berlin.

Berlin. Christian Wulff bricht ab. Gerade eben hat ihm Bundestagspräsident Norbert Lammert das aufgeschlagene Grundgesetz entgegengestreckt, aus dem Wulff nun Artikel 47 ablesen soll. Es ist 13.22 Uhr, und Hunderte Augenpaare richten sich im Bundestag auf den neuen, zehnten Bundespräsidenten, der gerade dabei ist, seinen Eid abzulegen. Wulff hebt die rechte Hand und beginnt: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft ...". Dann Pause. Wulff hat den Faden verloren. Aus der Ferne wirkt es, als ob er gequält lächele. Nicht jetzt auch das noch.

So weit ist er gekommen, hat zwei Tage zuvor eine fast zehnstündige Wahltortur mit drei Wahlgängen durchstanden, nun nur noch dieses eine Sätzchen, das ihn vom Präsidentenamt trennt, und ausgerechnet jetzt muss er sich verhaspeln. Das überrascht, denn Wulff ist routinierter Berufspolitiker und langjähriger Ministerpräsident. Doch zugleich lässt dieser Augenblick erahnen, wie groß der Druck sein muss, der seit Wochen auf dem Menschen Wulff lastet.

Ein kleiner Ruck geht durch das Staatsoberhaupt, er wiederholt den Eid, dieses Mal fehlerfrei: "Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe."

Die Antrittsrede von Christian Wulff im Wortlaut

Dann tritt das neue deutsche Staatsoberhaupt ans Rednerpult. Direkt vor ihm sitzt seine Frau Bettina im hellen Kostüm, daneben haben Eva Luise Köhler und ihr Mann, Bundespräsident a. D. Horst Köhler, Platz genommen. Wulff beginnt seine Rede, indem er seinen gescheiterten Präsidentschaftskonkurrenten, Joachim Gauck und Luc Jochimsen, für den "fairen Wettstreit" dankt. An Gauck gewandt, der oben auf der Ehrentribüne Platz genommen hat, sagt Wulff: "Bitte erzählen Sie auch weiterhin den Menschen vom Unrecht in der DDR." Während der Saal applaudiert, verschränken einige Linksabgeordnete ihre Arme.

Dann wendet sich Wulff an seinen Vorgänger Köhler und dankt ihm vor allem für dessen Engagement für Afrika.

Er wolle helfen, Brücken zu bauen, sagt Wulff nun, zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Deutschen und Migranten, Jung und Alt, Menschen aus Ost und West, Behinderten und Nichtbehinderten. Es ist ein typisches Wulff-Statement: am besten überall Frieden stiften, vor allem aber nirgends anecken. Für einen kurzen Augenblick scheint es, als gleite die Rede nun in dröge Beliebigkeit ab, als würde sich bewahrheiten, was viele bereits beim Scheitern des charismatischen und polarisierenden Kandidaten Joachim Gauck befürchteten: dass in Schloss Bellevue nun fünf Jahre Langeweile einziehen könnten.

Dann allerdings bekommt Wulffs Rede einen neuen Ton, als er konkreter macht, wen er da besonders gerne miteinander versöhnen möchte: die Deutschen und die Migranten, die in Deutschland zu Hause sind. "Wann wird es endlich selbstverständlich, dass alle die gleichen Bildungschancen haben? Wann wird es selbstverständlich, dass alle Kinder, die hier groß werden, auch Deutsch sprechen können? Wann wird es selbstverständlich, dass Menschen mit den gleichen Noten auch die gleichen Chancen haben, egal ob sie Yilmaz oder Krause heißen?", fragt Wulff. Langer Applaus unterbricht ihn. Die deutsche Gesellschaft müsse sich öffnen, fordert der Redner, und zeichnet das Bild eines bunteren Deutschlands: "Dann wird Neues, Gutes entstehen - aus urdeutscher Disziplin und türkischem Dribbling zum Beispiel, aus preußischem Pflichtgefühl und angelsächsischer Nonchalance, aus schwäbischer Gründlichkeit und italienischer Lebensart."

Für Christian Wulff, den stets so kühlen, reserviert-freundlichen Niedersachsen ist mit dieser Fragestellung das Höchstmaß an darstellbarer politischer Passion erreicht - ein kontrollierter Gefühlsausbruch gewissermaßen. Dennoch kauft man Wulff ab, dass er es ernst meint. Womöglich gelingt es dem neuen Bundespräsidenten - so wenig Befugnisse ihm die Verfassung auch zuerkennen mag - seiner Amtszeit tatsächlich einen höheren Sinn zu geben, indem er seinen Einfluss für eine bessere Integration von Ausländern geltend macht, ähnlich wie sich sein Vorgänger Köhler für den afrikanischen Kontinent eingesetzt hatte. Mit so einer Mission könnte der Politikprofi Wulff auch für die Bürger fassbarer werden.

Gegen Ende seiner 20-minütigen Antrittsrede holt Wulff noch einmal weit aus, fordert die Parteien auf, gegen die Politikverdrossenheit anzugehen, und verlangt von den anwesenden Bundestags- und Bundesratsmitgliedern, eine zweite Finanzkrise zu vermeiden und dafür "die Verursacher der Krise in Haftung zu nehmen." Schließlich rattert er noch Herausforderungen wie Klimawandel, Armut, Terror und niedrigere Geburtenraten herunter, bevor er endet. Parlamentarier und Ehrengäste applaudieren - Standing Ovations gibt es nach einer stellenweise emotionalen, aber nicht mitreißenden Rede keine.

Als sich das Plenum langsam zerstreut, reihen sich jedoch noch Dutzende Abgeordnete auf, um dem neuen Amtsträger zu gratulieren. Ein kleiner Mann im Anzug klopft dem lächelnden Wulff herzhaft auf den Arm und schwäbelt: "Jetzt hascht's!" Auch die Köhlers stehen noch eine Weile daneben und schütteln zahlreiche Hände. Horst Köhler strahlt und wirkt befreit. Vor der Wulff-Rede hatte Bundestagspräsident Lammert, zuletzt ein deutlicher Kritiker von Köhlers Rücktritt, die Verdienste des Demissionierten ausgiebig gewürdigt.

Schließlich streben Christian und Bettina Wulff den Ausgang des Bundestages an. Mit Polizeieskorte geht es in das nahe gelegene Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten im Berliner Tiergarten. Als Wulff im Ehrenhof des Schlosses aus seiner gepanzerten Limousine steigt, ist es drückend heiß. Das Wachbataillon der Bundeswehr ist aufmarschiert, ein Musikzug spielt auf. Eben noch bewegte sich Wulff in der ihm vertrauten Umgebung des Parlaments und hielt eine an konservativen Maßstäben gemessen moderne Rede. Doch von jetzt an folgt er dem festen Präsidenten-Protokoll. Der nächste Punkt an diesem Tag der Vereidigung aber kommt weit weniger staatspolitisch daher: Am Abend eröffnet Wulff das Sommerfest im Garten des Schlosses. 5000 Gäste sind geladen, die von 300 Künstlern unterhalten und von Dutzenden Köchen verköstigt werden sollen. "Das ist der wunderschöne Abschluss einer nicht wenig anstrengenden Woche", sagte der neue Präsident dann erleichtert.

Gegen 14.30 Uhr verstummt die Musik, und das neue Präsidentenpaar steigt auf dem roten Teppich die Stufen zum Eingang von Bellevue empor. Die schweren Holztüren schwenken auf, und der Hausherr und seine Gattin entfliehen der Hitze ins kühle Dunkel. Christian Wulffs Zeit hat begonnen.