Morgen will Christian Wulff zum Staatsoberhaupt gewählt werden. Bis zum Schluss gibt sich der Favorit aus Niedersachsen zurückhaltend.

Hamburg. Ein Sommerfest in der niedersächsischen Landesvertretung ist nicht unbedingt ein Ereignis, bei dem die Bundeskanzlerin nebst Ehemann zu Gast sein muss. Auch für den Vizekanzler und Außenminister ist das kein Pflichttermin. Aber die Dinge liegen nun mal anders, wenn der einladende Ministerpräsident Christian Wulff sich anschickt, in Kürze Bundespräsident zu sein. Dann zeigt sich auch Angela Merkel mit Joachim Sauer, dann kommt auch Guido Westerwelle. Dann demonstriert man Zusammenhalt, so wie gestern Abend, als Wulff - vermutlich ein letztes Mal - den Hausherrn seiner Landesvertretung gab.

Für ihn ging auch ein Wahlkampf zu Ende, der nie ein Wahlkampf sein sollte. Das Volk schaut schließlich nur zu, wenn morgen 1244 Wahlfrauen und Wahlmänner in der Bundesversammlung den Nachfolger des zurückgetretenen Horst Köhler wählen. Aber Wulff hat in den vergangenen Wochen werben müssen, überzeugen müssen, darauf achtgeben müssen, gehört zu werden im Vergleich zum omnipräsenten Joachim Gauck . Dass dessen Kandidatur im bürgerlichen Lager Sympathien wecken würde, hatte Wulff einkalkuliert. Aber dass es so schwer werden würde gegen den Nominierten von SPD und Grünen, damit hatte er nicht gerechnet.

Wulff hat Wochen hinter sich, in denen er, der klare Favorit, wie ein vermeintlicher Außenseiter dastand. Es schien so, als habe er sich damit arrangiert, im Schatten der Freiheitsikone Gauck zu stehen. Dabei hatte der Amtsträger Wulff vor allem Dienstpflichten zu erfüllen. Er wollte nicht von dem einen auf den anderen Tag aufhören, Regierungschef eines großen Landes zu sein. Er wollte auch nicht die von langer Hand und minutiös geplante Sommerreise durch Niedersachsen absagen. Nur wenn es der Terminkalender zuließ, nutzte Wulff die Lücken, um sich in den Landtagen vorzustellen. Zeit für eine Grundsatzrede, wie sie Gauck in der vergangenen Woche hielt, hatte Wulff nicht. Stattdessen reiste er in einem silberfarbenen Mercedes-Bus durch sein Land, das er ab morgen eigentlich nicht mehr regieren will. Er besuchte Firmen, die Wurst oder Pflanzen verkaufen. Er besuchte ein Schloss, ein Museum, er fuhr mit einer Bimmelbahn namens Moorexpress. Von morgens bis in den späten Abend stand er unter Beobachtung. Selbst im Reisebus war er von Journalisten umgeben. Aber Wulff gab nicht den Alleinunterhalter. Er blieb leise, zurückhaltend, fast schüchtern, immer konzentriert, wohl wissend: Alles, was er sagt, hat jetzt Gewicht.

Manchmal aber wurde er nervös. Als er eine Reederei in Buxtehude besuchte und in einem Schiffssimulator ein Containerschiff auf hoher See steuern sollte, war so ein Moment. Kaum ging in der Simulation ein Tanker mit ihm auf Kollisionskurs, sagte er: "Das liest sich ganz fürchterlich in der Zeitung. Der hat das Ding versenkt." Und dann fragte er: "Was ist mit der weißen Boje dahinten?" Sein Simulator-Trainer antwortete lachend: "Das ist die ,Gorch Fock'." Und Wulff, umzingelt von Journalisten, seufzte: "Das liest sich auch nicht gut." Auch die Medienbegeisterung für Gauck irritierte ihn bisweilen. "Am Ende wird immer dem, der gegen den Strom schwimmt, die größte Bedeutung beigemessen. Die anderen, die ihre Entscheidungen im Mainstream verkünden, fallen ins mediale Loch und werden nicht vermittelt." Es seien vier Liberale, die erklären, Herrn Gauck zu wählen, rechnete Wulff vor. "Wenn ich die Medien verfolge, habe ich den Eindruck, es könnten auch 400 sein."

Einen Tag nach diesen Äußerungen hielt Gauck seine viel beachtete Grundsatzrede. Währenddessen saß Wulff im Reisebus auf dem Weg zur nächsten Fabrik. Von unterwegs fielen seine Sätze eher knapp aus: "Ich glaube, dass ich es kann. Ich traue mir das Amt zu", sagte er höflich, wenn man ihn fragte. Und Gauck? Für ihn hatte Wulff viele freundliche Worte übrig, bis zuletzt. Als Präsident könne er sich vorstellen, Gauck als Berater einzubinden und Schloss Bellevue zu einer Denkfabrik für Deutschland zu machen, kündigte Wulff gerade erst in der "Bild am Sonntag" an. Es war das erste Mal seit seiner Nominierung, dass er sich richtig siegessicher gab. Und manche in seinem Umfeld fragten sich: Warum nicht gleich so? Politiker in Hannover, die ihn kennen, sagen, Wulff hätte von Beginn an selbstbewusster auftreten können.

Aber seine Zurückhaltung wird wohl so lange bleiben, bis er wirklich gewählt ist. Am Wochenende zweifelte er öffentlich, ob es auch im ersten Wahlgang klappt. Trotz mehrerer Abweichler kann er auf die absolute Mehrheit des schwarz-gelben Lagers bauen. Und er kann damit rechnen, dass die Linkspartei Gauck mehrheitlich die Stimme verweigern wird. Eigentlich ist alles klar.

Wulff könnte sich also freuen. Und er könnte diese Freude öffentlich zeigen. Aber der CDU-Politiker ist nicht der Mann, dessen Gefühle in Gestik oder Mimik abzulesen sind. Hinter seiner Verbindlichkeit hält Wulff in diesen wichtigsten Tagen seiner Laufbahn verborgen, wie es ihm wirklich geht. Er hält auch im Verborgenen, wie es sich anfühlen muss, als erfolgsverwöhnter und als einer der beliebtesten Politiker im Land in den Umfragen hinter Gauck zu liegen. Man wird auch nicht erfahren, wie es ihn getroffen haben muss, dass frühere Bundespräsidenten aus dem bürgerlichen Lager ausgerechnet bei seiner Kandidatur die Abschaffung der Fraktionsbindung fordern.

Dabei ist das nur die Spitze der Kränkungen, die Wulff seit seiner Nominierung ertragen musste. Gauck bringe ein Leben mit in seine Kandidatur, Wulff bringe dagegen eine politische Laufbahn mit, hatte SPD-Chef Sigmar Gabriel bei der Präsentation Gaucks gesagt. Dieser Satz begleitet den Ministerpräsidenten seitdem wie ein Makel. Hat ein 51-Jähriger, der sein Berufsleben in der Politik verbracht hat, auch ein "Leben" gelebt?, fragen seine Kritiker. Wulff versuchte zuletzt erst gar nicht, gegen die Schablonen anzukämpfen. Nur ungern erzählte er noch einmal von damals, als er als Scheidungskind seine an multipler Sklerose erkrankte Mutter pflegte. Er lud auch keine Magazine zu Homestorys mit seiner jungen Familie ein. Er redete vermutlich nur ein Viertel so viel wie Gauck in den vergangenen Wochen. Aber wenn er sich zu Wort meldete, dann nie ohne Sorgfalt. "Die Zukunft gehört den Sanftmütigen", war ein Satz, den er vor rund zehn Tagen auf dem Höhepunkt der öffentlichen Gauck-Manie fallen ließ. Kaum ein anderer Spruch hätte in jener Phase besser als Selbsterklärung gepasst. Dort, wo andere in Wulff den Spießer, den Harmoniebedürftigen, den Konsenspolitiker erkennen, sieht er seine eigentliche Stärke.

Am Mittwoch vor einer Woche, Wulff war wieder auf Firmenbesuch, fragten ihn seine Gastgeber, welches Ergebnis er sich denn wünsche. Sie meinten das Fußballspiel der Deutschen gegen Ghana am Abend. "Ein 1:0 würde mir schon reichen", entgegnete er. Ein knappes Ergebnis ist auch ein Ergebnis. Wulff könnte morgen mit einer Mehrheit von nur einer Stimme gut leben. Auf die Abweichler ist er vorbereitet. Und offenbar hat er einen guten Riecher, was Ergebnisse betrifft. Das Spiel am Mittwoch endete bekanntlich so, wie es Wulff erwartet hatte.