Wenn Politiker zurücktreten, geht es weniger um Schuld und Sühne als um Macht und Privilegien. Manche wollen noch im Sturz punkten.

Hamburg. "So manches, was ich lese in den letzten Tagen, ist mit der Würde des Amtes nicht mehr vereinbar. Die Freiheit, ethische und politische Herausforderungen zu benennen und zu beurteilen, hätte ich in Zukunft nicht mehr so, wie ich sie hatte." Es herrscht atemlose Stille im Saal. Selbst hartgesottene Reporter bekommen feuchte Augen. Vor den TV-Schirmen verfolgen Millionen die Szene. Viele weinen.

Diese Sätze einer Rücktrittsrede fielen nicht im Schloss Bellevue, wo der Bundespräsident residiert, sondern in einem schlichten Versammlungsraum im Kirchenamt von Hannover, als Margot Käßmann den Rücktritt von ihren Ämtern als Bischöfin und Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) erklärte - vier Tage nachdem sie mit 1,54 Promille Alkohol im Blut am Steuer erwischt worden war. Die Wortschöpfung "Lallelujah" drohte zum Synonym für ihren tiefen Sturz zu werden wie heute der Begriff "Wulffen" für den ramponierten Ruf von Christian Wulff, was ebenso umgangssprachlich das "Vollquatschen einer Mailbox" bedeutet. Tiefer als in die Hand Gottes könne niemand fallen, sagte sie - und stieg in den Himmel der Popularität.

Seit jenem 24. Februar 2010 ist sie die ungekrönte Königin in der Kunst des Rücktritts, jedenfalls in dem noch jungen Jahrtausend. Geradlinigkeit statt Gedruckse, Entschlossenheit statt Entschuldigungen heißen die Treibsätze ihres Höhenfluges. Aber war ihr Rücktritt auch eine Blaupause für die Politik, wegweisend womöglich auch für einen anderen Hannoveraner, den affärengeplagten Christian Wulff, den uneinsichtigen Bürgermeister von Duisburg, Adolf Sauerland, den seine Bürger nur per Abstimmung loswerden konnten, oder den Hamburger Bezirksamtsleiter Markus Schreiber, den erst ein Machtwort des Bürgermeisters zum Rückzug bewegen konnte?

+++Sauerland abgewählt: Bürgerrebellion in Duisburg+++

Es ist immer auch die Frage, wie der Einzelne und die Gesellschaft mit Schuld und Sühne umgehen können - eine geradezu alttestamentarische Frage, die der frühere Bundespräsident Roman Herzog, der auch sein Amt als Chef des Bundesverfassungsgerichts untadelig ausgefüllt hatte, eindeutig beantwortet. Wer persönlich etwas "versiebt" habe, schrieb er in der "Welt", müsse zurücktreten.

Politische Verantwortung nennt das nicht nur Herzog - und die Geschichte der Bundesrepublik ist reich an Beispielen dafür, wie man am Amt kleben kann. Dabei geht es nicht nur um moralische Größe oder Uneinsichtigkeit. Es geht nicht nur um Macht und Privilegien, um Dienstwagen und Pensionen, es geht immer auch um den Verlust an Bedeutung, zu dem heute auch der Abschied von den roten Teppichen gehört - und damit aus jenen Zwischenwelten aus Politik und Show, in denen sich gerne auch Dschungel- und Drückerkönige tummeln.

Kein Wunder, dass sich da Politiker schwertun mit dem Rücktritt - auch wenn der nicht automatisch ein Abschied für immer sein muss, manche Privilegien sogar lebenslang gelten. Otto Wiesheu, war, als CSU-Generalsekretär, wie Käßmann betrunken unterwegs, trat zurück und wurde später Wirtschaftsminister in München und Bahnvorstand in Berlin. Einem Bundespräsidenten wie Christian Wulff stünden lebenslang Dienstwagen und Chauffeur zur Verfügung, Ehrensold von derzeit 199 000 Euro im Jahr inklusive.

+++ 79.000 Duisburger wollen die Abwahl von Sauerland +++
+++ Duisburg: Stadt der Trauer +++

Den honorigsten Rücktritt legte wohl im Sommer 1993 Rudolf Seiters hin. Der RAF-Terrorist Wolfgang Grams hatte beim Versuch seiner Verhaftung auf dem Bahnhof des mecklenburgischen Bad Kleinen erst einen Bundespolizisten, dann sich selbst erschossen. Weil aufgrund falscher Zeugenaussagen der Verdacht aufkam, Grams sei von GSG-9-Beamten hingerichtet worden, trat der Bundesinnenminister sofort zurück. Er wollte sich und seiner Familie die unwürdige Diskussion ersparen, "wer in dieser Angelegenheit wem die Verantwortung zuschiebt".

Verantwortung für tatsächliches oder vermeintlich falsches Verhalten von Mitarbeitern zu übernehmen hatte zuvor ähnlich stilvoll Willy Brandt praktiziert. "Ich übernehme die politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume und erkläre meinen Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers", schrieb der SPD-Politiker im Mai 1974 handschriftlich an den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Keine Entschuldigungen, keine Rechtfertigungen, ein einziger Zusatz: "Mit vorzüglicher Hochachtung". Günter Guillaume war Referent von Brandt und längst als DDR-Spion enttarnt, als er die Familie noch bei einem Urlaub in Norwegen begleiten durfte. Wer dafür wirklich verantwortlich war, ist bis heute ungeklärt.

Loslassen vom Amt gehört zu den essenziellen Zutaten der Demokratie, ist Demut vor dem Wähler. Aber an die Stelle des Rücktritts trat immer häufiger die Entschuldigung. Als Protagonist dieser Methode kann der frühere hessische Ministerpräsident Roland Koch gelten. Der musste illegale Parteispenden und falsche Rechenschaftsberichte eingestehen. Als Konsequenz kündigte er sogar "brutalstmögliche Aufklärung" an. An diesen um Vergebung bettelnden Politiker-Typus mag sich vielleicht Christian Wulff erinnert haben, als er in einer TV-Sondersendung einräumte, dem niedersächsischen Parlament in der Frage seiner geschäftlichen Beziehungen zu dem Freund und Geschäftsmann Egon Geerkens nicht die volle Wahrheit gesagt und den Privatkredit für seinen Hauskauf verschwiegen zuhaben - ganz abgesehen von anderen Halb- und Unwahrheiten in der Affäre. Wulff und Koch sind politische Weggefährten seit der Jungen Union, Mitglieder des geheimnisumwitterten "Andenpaktes", der in jenen Jahren entstand.

Bei Koch musste seinerzeit der Kanzlei-Chef Franz Josef Jung zurücktreten, der in Berlin noch Verteidigungs- und Arbeitsminister werden durfte. Jung war, obwohl nachweislich nicht in die Parteispendenaffäre verstrickt, das klassische Bauernopfer. Früher hieß das Prügelknabe. Das waren im Mittelalter bei Hofe junge Männer, die stellvertretend etwas an die Ohren bekamen, wenn der Prinz etwas ausgefressen hatte.

Gegen Olaf Glaeseker, den langjährigen Sprecher und Intimus von Wulff, ermittelt der Staatsanwalt. Der Präsident hat ihn entlassen, in Niedersachsen fühlt sich Innenminister Schünemann von Wulffs Faktotum "beschissen". An Glaeseker hat Roman Herzog gewiss nicht denken können, als er vor gut zehn Jahren seinen Aufsatz über "Verantwortung, politisch" verfasste. Es war gerade eine rücktrittsfreie Zeit, das Thema nicht aktuell. Herzog wusste, sonst würden seine Aussagen "unausweichlich" als Parteinahme gewertet - für wen auch immer. Politisch verantwortlich ist nach Herzog ein Politiker auch für Missgriffe von Mitarbeitern: "Das gilt vor allem bei den politischen Beamten, die ein Minister in sein Ressort mitbringt und für die er dann in besonderer Weise geradezustehen hat."

Für ganz großes Kino im Rücktrittstheater sorgte zuletzt der frühere Verteidigungsminister, der Baron zu Guttenberg. Einer seiner Prügelknaben, der frühere Staatssekretär Wichert, wird gerade von Guttenberg-Nachfolger de Maizière in einen Beraterkreis des Ministeriums berufen - und damit mindestens teilrehabilitiert. In der Affäre um seinen zu Unrecht erworbenen Doktortitel leugnete Guttenberg zunächst jede Schuld. Als längst klar war, dass seine Arbeit in weiten Teilen abgeschrieben war, bat er, na klar, um Entschuldigung. Natürlich war er auch Opfer: "Der Druck der Medien." Mancher Politiker glaubt offenbar, beim Sturz mit einem Fallrückzieher ein letztes Tor machen zu können.

Dabei ist juristisch ein Rücktritt eigentlich leicht. Der Amtseid, den etwa Minister leisten und in dem sie schwören, Schaden vom deutschen Volke abzuwenden, ist nicht strafbewehrt. Machen sie Fehler im Amt, haben sie dennoch keinen Meineid geschworen. Da könnte man doch gleich mit dem Amtseid auch eine Rücktrittsformel einführen, schlug einmal der Publizist Claus Jacobi vor. Darin wenden sie wiederum Schaden vom deutschen Volk ab und übernehmen die Verantwortung für etwas, an dem sie auf keinen Fall schuld sind. Wie beim Eid könnte der liebe Gott angerufen werden oder nicht - und außerdem die Höhe der Pension.