Und wie sind Ost und West seither vorangekommen? Eine Bilanz von Fehlern und Erfolgen, Irrtümern und Einsichten. Und ein Blick nach vorn.

Zum Hafengeburtstag im Mai 1989, ein halbes Jahr vor dem Mauerfall, kam erstmals seit 38 Jahren wieder ein Passagierdampfer aus Sachsen nach Hamburg. An Bord: Dresdens Bürgermeister Wolfgang Berghofer, der von seinem Hamburger Amtskollegen Henning Voscherau freundlich empfangen wurde. ",Dresden' an der Überseebrücke - Viel Dampf als Zeichen des guten Willens", titelte das Abendblatt.

Ein halbes Jahr später, als die Grenze zur DDR bereits offen war, meldete sich SED-Mitglied Berghofer erneut bei Voscherau. Er bot an, mit etwa 200 000 SED-Mitgliedern, die nicht in "größerem Maße belastet waren durch IM-Tätigkeiten", in die gerade neu gegründete SDP (Sozialdemokratische Partei der DDR) und später in die SPD überzuwechseln. Die Sozialdemokraten hätten damit eine bessere Basis für die ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990.

Daraus wurde nichts, schreibt Michael Jürgs in seinem neuen Buch "Wie geht's, Deutschland? Eine Bilanz der Einheit". Erstens war der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel dagegen: Nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD 1946 und der Verfolgung vieler Sozialdemokraten in der DDR gebe es mit ehemaligen SEDlern keine Gemeinsamkeiten. Zweitens wollten auch die Bürgerrechtler in der SDP keine "Wendehälse" in ihren Reihen dulden. So kam es, dass die Sozialdemokraten auf Zuwachs verzichteten, während CDU und FDP die Mitglieder der Ost-Blockparteien CDU und LDPD bereitwillig aufnahmen.

Eine fast vergessene Episode, an die Jürgs von Voscherau erinnert wurde. Heute flucht mancher Sozialdemokrat, man hätte damals doch besser ein paar Tausend SEDler parteiintern umerziehen sollen, anstatt sie der Linken zu überlassen. "Adenauer hat es ja nach dem Krieg nicht ungeschickt gemacht und viele, viele kleine Nazis stillschweigend in die CDU integriert", sagt Jürgs. "Die SPD hätte 1990 sagen müssen - Voscherau ist heute noch dieser Meinung, Egon Bahr auch: Wenn es nicht gerade Mörder und Folterer sind, dann nehmen wir die auf. Und dann hätte die Linke drüben heute wahrscheinlich 12 Prozent und die SPD 38." Stattdessen errang die Linke jetzt bei der Brandenburger Kommunalwahl allein in Potsdam 31 Prozent, die SPD 27. Tja.

An solchen Fehlerdiskussionen zur Einheit mangelt es nicht. Aber Jürgs hatte "diese Theorie-Debatten eigentlich satt. Ich wollte tun, was Journalisten tun sollten: hinfahren, gucken, mit Menschen reden. Ich glaube nicht, im Besitz der Wahrheit zu sein, ich wollte nur viele wahre Geschichten aufschreiben. Das hat mich gereizt." 1990 verlor er seinen Job als "Stern"-Chefredakteur ausgerechnet wegen eines Leitartikels mit dem Titel "Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?", in dem er vor einer zu schnellen Vereinigung warnte. Jetzt sprach er mit Helden der Wende, über die niemand mehr redet; mit "Populisten, Profiteuren, Patrioten" (Untertitel). Und grub manche Geschichte aus, die noch nicht erzählt wurde.

Zum Beispiel, dass Angela Merkel am 9. November 1989 vom Mauerfall hörte, als sie gerade in einer Sauna in der Schönhauser Allee in Ostberlin saß. Oder dass es den Schießbefehl für DDR-Grenzer tatsächlich von Anfang an gab. Jürgs hat ihn gefunden: eine "Geheime Verschlusssache", ausgestellt am 6. Oktober 1961 in Strausberg vom damaligen DDR-Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. Alle gegenteiligen Beteuerungen von DDR-Funktionären waren also falsch.

Es ist schon paradox: 1989/90 endeten ein Unrechtsregime und eine Mangelwirtschaft - aber trotzdem bricht beim Thema deutsche Einheit selten Jubel aus. Noch immer überwiegt eine ungünstige Bilanz: Bis Ende 1994 waren 2,5 Millionen Arbeitsplätze im Osten vernichtet worden; trotz eines leichten Wirtschaftswachstums liegt die Arbeitslosigkeit heute noch über 12 Prozent, bei Langzeitarbeitslosen, Älteren und Geringqualifizierten sogar um 40 Prozent. Und das, obwohl bisher 1,4 Billionen Euro gen Osten transferiert worden sind, so das Institut für Wirtschaftsforschung in Halle.

Manche Forscher werfen der Treuhand nachträglich vor, sie habe keine Privatisierung, sondern einen "Ausverkauf" betrieben. "Zwar hätten wir liebend gern mehr ostdeutsche Manager in leitenden Funktionen eingesetzt", sagte die frühere Treuhand-Chefin Birgit Breuel zu Jürgs, "doch die konnten wir uns ja nicht backen."

Aber da gab es auch das fatale "Altschuldengesetz", das DDR-Betriebe nach der Währungsunion mit schlagartig erhöhten Kreditzinsen in den Ruin trieb. Oder den Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung", den viele DDR-Bürger als erneute Enteignung empfanden. Oder verletzende Aussagen wie diese: Das Wissen der Ostdeutschen sei "über weite Strecken völlig unbrauchbar", befand der Historiker Arnulf Baring 1991. "Viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten."

Baring irrt. Michael Jürgs fand sehr wohl Menschen mit besonderen Fähigkeiten. Zum Beispiel unter den Mitgliedern des Runden Tisches, die im Winter 1989/90 endgültig das alte Regime niederrangen: Tatjana Böhm, Vertreterin der ostdeutschen Feministinnen; oder den Pfarrer Rainer Eppelmann; oder den Philosophie-Professor Richard Schröder.

"Was mich an denen besonders beeindruckt hat, ist ihr unglaublicher, für Deutsche atypischer Optimismus und Mut", sagt Jürgs. "Das dürfen wir nie vergessen: Wir im Westen haben von Kindesbeinen an gelernt, Fragen zu stellen, aufmüpfig zu sein, uns nichts gefallen zu lassen. Für die drüben gab es das nicht. Wer aufmüpfig war, ging in den Knast. Und dennoch haben sie es 1989 geschafft, auf die Straße zu gehen und demokratisch ein System umzustürzen, obwohl dessen ,bewaffneten Organe' schon bereitstanden. Von diesem Mut können wir weiß Gott etwas lernen."

Damit tat und tut sich der Westler jedoch schwer. Zunächst sichtete er überall Mangel. Fabrikschlote ohne Filter. Ständig neu enttarnte Stasi-Spitzel. In Neuendorf auf Hiddensee gab es 1990 nur eine einzige Waschmaschine, unglaublich. Hunderttausende von Ost-Abschlüssen und -diplomen wurden im Westen nicht anerkannt. Die Ostdeutschen litten an einer "tief sitzenden Kränkung, nicht gleichwertig zu sein", sagt Hans-Joachim Maaz, Psychoanalytiker in Halle.

Erst ganz allmählich akzeptieren Westler, "dass es außer dem grünen Ampelmännchen doch noch dieses oder jenes bei uns gab, das nicht so schlecht war, dass Kinderbetreuung nicht etwa deshalb ein strafbarer Tatbestand ist, weil wir das damals schon hatten", sagte Matthias Platzeck zu Jürgs.

Heute sind nur noch wenige Helden des Umsturzes bekannt. Viele sind in Evangelischen Akademien, einige in Landesverwaltungen und andere in Forschungsstellen verschwunden. In Talkshows tauchen höchstens mal Lothar de Maizière (CDU) oder Matthias Platzeck (SPD) auf. Aber die Lufthoheit in den Ost-Debatten haben Westdeutsche.

Das ist schade, weil es auch durchaus ermutigende Nachrichten gibt. Jürgs hat in vielen kleinen Kommunen im Osten kreative Menschen gefunden, die neue Wege gehen und nicht auf einen Westler im Retter-T-Shirt warten.

Zum Beispiel im 4110-Einwohner-Städtchen Bad Schmiedeberg in Sachsen-Anhalt. Da haben der Bürgermeister, die Leute von der Arbeitsagentur und Vertreter des Landes es geschafft, die Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres von 15,6 auf 7,8 Prozent zu senken. Wie? Indem sie die Gesetze brachen. Sie warfen nämlich staatliche Gelder für ALG I, Wohnkostenzuschuss und Arbeitsförderung in einen Topf - was haushaltsrechtlich eigentlich nicht geht - und starteten das Projekt "Bürgerarbeit": Eine kommunale Gesellschaft setzt Langzeitarbeitslose im Gemeinwesen ein. In Altenheimen, im Tourismus, im Handwerk. Dafür zahlt sie 800 Euro brutto im Monat, befristet, aber sozialversichert.

Die Schmiedeberger haben bereits EU-Forschungsgelder für diesen Modellversuch eingeworben. Und es gibt den ersten Ableger des Projekts im Westen, in Weiden/Oberpfalz. "Inzwischen brauchen wir doch auch einen Aufbau West in manchen Regionen", sagt Jürgs. "Es macht keinen Sinn, dass eine überschuldete Stadt wie Dortmund für Städte wie Dresden mitzahlt, denen es längst gut geht."

Vielleicht ist ein noch unterbelichteter Aspekt der Einheitsfolgen, dass sich Deutschland gern mit bürokratischen Vorschriften selbst zu Tode regelt. Aber das muss die nächsten 20 Jahre ja nicht so weitergehen, meint Jürgs. "Die beste Annäherung gewinnt man durch Hinfahren, Leute und Landschaften kennenlernen, Zuhören. Ja, ich bin dem Osten wirklich nähergekommen."