Der Chaos Computer Club kritisiert die Netz-Offensive von CDU, SPD und Co. Geht der Siegeszug der Piratenpartei weiter?

Hamburg/Berlin. Zum Reichstagsgebäude in Berlin haben Deutschlands freigeistige Internetfachleute nur 500 Meter Fußweg. Aber als Lobbygruppe sind sie in keinem Register zu finden. Dabei vertritt der Chaos Computer Club (CCC) nach eigenem Anspruch das deutsche Internetvolk, die 55 Millionen mit PC, Laptop und iPhone, die regelmäßig im Internet surfen. Was den Bundestagswahlkampf 2009 angeht, kommt der Club zu einem alarmierenden Befund:

"Die Parteien haben die Netzgemeinde überhaupt nicht verstanden", sagte CCC-Wahlkampfexpertin Constanze Kurz dem Abendblatt. Ein vernichtendes Urteil für all die Strategen in den Wahlkampfzentralen, die bloggen und twittern lassen, was das Zeug hält. Der Chaos Computer Club ist als unabhängige Instanz etabliert. Der Bundestag und sogar das Bundesverfassungsgericht haben Stellungnahmen und Gutachten angefordert, unter anderem zum BKA-Gesetz und zur Vorratsdatenspeicherung.

Jeder Top-Politiker hat einen Eintrag bei einem sozialen Netzwerk wie MeinVZ oder Facebook. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und SPD-Herausforderer Frank-Walter Steinmeier haben im Netz Tausende "Follower", also Unterstützer. Bei MeinVZ gliedert sich die aktuelle Parteivorliebe so auf: CDU/CSU: 26 000 Anhänger, SPD 20 000, FDP 21 000, Grüne 20 000, Linke 12 000. Doch diese Liste für die "heavy user" im Netz ist erst komplett mit der am 27. September ebenfalls zur Wahl stehenden Gruppierung mit den meisten Anhängern: der Piratenpartei, 62 000 Anhänger.

"Wir reden hier nicht von den pickligen Nerds, die mit kalter Pizza Nächte vor dem Rechner verbringen", sagte CCC-Expertin Kurz. "Die Wahrnehmung der etablierten Parteien ist falsch. Das sind nicht nur Schüler und Studenten, die Netzgeneration geht bis 40 hoch." Deshalb hält der Chaos Computer Club die Wahlprognosen der Meinungs-forschungsinstitute in der Gruppe der bis 40-Jährigen für falsch. "Die Institute machen ihre Prognosen nach telefonischen Umfragen im Festnetz. Viele Menschen der jungen Generation haben aber kein Festnetz mehr, sondern nur noch ein Handy. Dadurch werden die Umfragen immer weniger repräsentativ."

Auch der mächtige Branchenverband Bitkom mahnte nach einer Studie: "Das Internet wird zum zentralen Medium für die Kommunikation zwischen Politik und Bürgern", sagte Bitkom-Präsident Prof. August-Wilhelm Scheer. Es ist aber das große Missverständnis dieses Wahlkampfs: Die Parteien geben alles im Internet - Websites, Soundbites (knackige Zitate), Videos, Tagebücher, sogar Online-Spendenformulare. Doch am Nutzer und an der Zielgruppe senden sie womöglich vorbei.

Die Internet-Gemeinde ist kritisch gegenüber jeder Obrigkeit. Gerade die Piratenpartei lebt von der Ablehnung der Netz-Zensur, vom digital ausgelebten Hass auf Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU). Sie will Kinderpornografie im Netz unterbinden. "Zensursula" hat die Web-Gemeinde sie getauft. "Die Blogosphäre macht genauso die SPD für Internetzensur verantwortlich", sagte CCC-Expertin Kurz. "Die klassische Wählerschaft der CDU ist ohnehin nicht so online-affin.

Aber auch die SPD erntet für ihren Auftritt Häme und Spott." Davon profitiere die Piratenpartei, die sich gegen jeden Eingriff ins Netz wehrt. 0,9 Prozent holten die "Piraten" bei der Europawahl. Der Gießener Politologe und Internetexperte Christoph Bieber hält das für einen "Urknall". Erstmals melde sich eine Gruppe zu Wort, die aus dem Netz komme. Die etablierten Parteien müssten den "digitalen Graben" nun überwinden. Das gelingt den Grünen nach Einschätzung des Chaos Computer Clubs am besten, wie Expertin Kurz sagt. "Die sind technologisch am weitesten."

Aber auch klassische Reflexe zählen. Als CDU-Kandidatin Vera Lengsfeld sich tief dekolletiert neben Angela Merkel - ebenfalls mit weit ausgeschnittenem Kleid - auf einem Wahlplakat zeigte, zog der "Web-Traffic" an: "An einem Tag hatte ich 17 000 Klicks auf meinem Wahl-Blog. Das hätte ich mit einem normalen Straßenwahlkampf nie erreicht", sagte Lengsfeld.

Zu den Millionen Unentschlossenen und Wechselwählern gesellen sich noch die Webfetischisten. Wer will da noch eine Prognose für die Bundestagswahl abgeben? Emnid-Geschäftsführer Klaus-Peter Schöppner glaubt noch nicht an Effekte, wie sie Barack Obama in seiner Präsidentschaftskampagne auslösen konnte. Nach einer Umfrage sagten 72 Prozent der Deutschen, dass das Internet auf ihre politische Willensbildung keinen Einfluss habe. Schöppner sagte: "Es zeigt sich, dass vor allem Jugendliche, die sich sonst nicht für Politik interessierten, damit erreicht werden können. Das Internet ist noch ein ausdrückliches Zielgruppenmittel im Wahlkampf."