Der 7. Mai 1989 geht in die Geschichte ein: Zum ersten Mal wehren sich die Bürger unter dem SED-Regime gegen eine Wahl, deren Ausgang von Anfang an feststand.

Manchmal hatte Wladimir Iljitsch Lenin, Berufsrevolutionär, Gründer der Sowjetunion und "Klassiker" der internationalen kommunistischen Bewegung, durchaus recht. So hat er zum Beispiel wirklich einleuchtend erklärt, in welcher Situation eine Revolution auszubrechen pflegt. Vereinfacht ausgedrückt heißt die leninsche Revolutionsdefinition: Die Herrschenden können nicht mehr wie bisher, und die Beherrschten wollen nicht mehr wie bisher.

Besser kann man die gesellschaftliche Situation, die seit dem Frühjahr 1989 in der DDR herrscht, kaum beschreiben. Während in der Sowjetunion seit 1986 unter KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow ein Reformprozess in Gang kommt, der die Gesellschaft behutsam demokratisiert, scheinen die Verhältnisse in der DDR wie zementiert zu sein. Die SED-Führung unter Generalsekretär Honecker sieht nicht nur keinen Grund für Reformen, sie hält sie sogar für gefährlich, was aus ihrer Sicht letztlich vernünftig ist. Wollen die alten Männer im Politbüro die Macht doch um keinen Preis aus der Hand geben.

Aber im Frühjahr 1989 hat sich der Wind längst gedreht. Die wirtschaftliche Lage der DDR verschlechtert sich dramatisch, und das lässt sich immer weniger vertuschen. Die Menschen werden von Monat zu Monat unzufriedener und bringen das auch zum Ausdruck, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise. Auf der einen Seite steigt die Zahl derer, die einen Ausreiseantrag stellen, um die DDR für immer in Richtung Bundesrepublik zu verlassen. Andererseits formiert sich - noch immer überwiegend unter dem Dach der evangelischen Kirche - eine Bürgerbewegung, die offene Kritik an den Zuständen in der DDR übt und Reformen einfordert. Auch wenn die Bürgerrechtsgruppen meist nur aus wenigen engagierten Personen bestehen und vor allem auf Ost-Berlin, Leipzig, Dresden und einige weitere Städte beschränkt bleiben, gewinnen sie doch immer größere Bedeutung und werden nun auch in der Bevölkerung mehr und mehr akzeptiert.

Als die SED-Führung im Frühjahr 1988 beschloss, für den 7. Mai 1989 Kommunalwahlen anzusetzen, schien die Welt für sie noch in Ordnung zu sein. Damals hätte sie sich wohl nicht träumen lassen, welchen Ärger sie sich damit einhandeln würde. Bis dahin waren Wahlen in der DDR für die Kommunisten immer Selbstgänger gewesen, scheindemokratische Pflichtübungen, bei denen nie wirklich etwas zur Wahl stand, am allerwenigsten die verfassungsmäßig festgeschriebene "Führungsrolle der Partei der Arbeiterklasse". Das System war plump wie einfach: Gewählt wurden weder Parteien noch einzelne Kandidaten, es ging vielmehr darum, einem gemeinsamen Wahlvorschlag der "Nationalen Front" en bloc zuzustimmen. Dieser Vorschlag war vorher unter Federführung der SED aufgestellt worden und sollte am Wahltag nur noch bestätigt werden. Der Wahlakt bestand also eigentlich nur noch darin, den Wahlzettel zusammenzufalten und in die Urne zu stecken. Dafür brauchte man weder Stift noch Kabine.

Laut DDR-Wahlgesetz mussten zwar Wahlkabinen vorhanden sein, doch meistens standen diese in der hintersten Ecke des Wahllokals, und jeder, der sie benutzte, musste damit rechnen, registriert und der Stasi gemeldet zu werden. So lassen sich die Zustimmungsraten, die in den früheren DDR-Wahlen stets über 99 Prozent gelegen haben, leicht erklären. Da die SED nichts dem Zufall überlassen wollte, hatte sie selbst innerhalb des Systems noch Sicherheiten eingebaut: Zur Wahl standen nämlich nicht nur Parteien wie die von vornherein mit großer Mehrheit ausgestattete SED und die ihr hörigen Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und DBD, sondern auch "gesellschaftliche Organisationen" wie die Freie Deutsche Jugend (FDJ), die Einheitsgewerkschaft FDGB oder der Kulturbund. Und selbstverständlich waren die aufgestellten Kandidaten mehrheitlich SED-Mitglieder.

Doch was fast 40 Jahre lang weitgehend reibungslos funktioniert hat, bereitet den Machthabern der DDR im Frühjahr 1989 erhebliche Kopfschmerzen. Bisher hatten die meisten Gegner des Systems an der Wahlfarce gar nicht teilgenommen, was ihnen im Stasi-Jargon die Bezeichnung "Wahlverweigerer" einbrachte. Viele werden das auch diesmal so halten, doch es gibt auch eine andere Strategie: Erstmals rufen mehrere oppositionelle Gruppen dazu auf, zur Wahl zu gehen, mit Nein zu stimmen und anschließend die Stimmenauszählung zu überwachen. Auch wenn den Oppositionsgruppen für eine flächendeckende Wahlbeobachtung die Manpower fehlt, wollen sie diesmal in allen Regionen der DDR systematisch aktiv werden. Außerdem haben die Oppositionellen schon bei der Wahlvorbereitung versucht, im Rahmen der DDR-Gesetze eigene Kandidaten aufzustellen. Erwartungsgemäß sabotieren die "zuständigen Stellen" dies, verweigern die nötigen Auskünfte und die Herausgabe von Dokumenten.

Dass sich die Stimmung in der Bevölkerung verändert hat, bekommen die "Kandidaten der Nationalen Front" schon seit Jahresbeginn 1989 auf den Wahlversammlungen zu spüren. Auch viele Menschen, die jahrzehntelang angepasst gelebt hatten, zeigen jetzt ganz offen ihren Unmut und stellen nicht selten das ganze System infrage.

In den Monaten vor der Wahl bombardieren unzufriedene DDR-Bürger die Behörden mit fast 230 000 "Eingaben", in denen sie sich über alles Mögliche beschweren: vom jahrelangen vergeblichen Warten auf einen Telefonanschluss über das schlechte Obst-Angebot in den "Kaufhallen" bis hin zu vertuschten Umweltkatastrophen und verweigerten Urlaubsreisen nach Ungarn.

Ende April 1989, Wahlversammlung in einem Klubhaus im Leipziger Südwesten: Nachdem der SED-Kandidat ein halbstündiges Referat über die jüngsten Erfolge beim Aufbau des Sozialismus gehalten hat, meldet sich eine junge Frau und bekommt vom Versammlungsleiter schließlich das Wort erteilt. "Können Sie mal erklären, wie eine Gegenstimme aussieht?", fragt sie. Angesichts einer solchen Dreistigkeit ringt der SED-Funktionär nach Luft und entgegnet schließlich aufgebracht: "Das brauche ich Ihnen nicht zu erklären." Doch die Mehrheit im Publikum ist gegen ihn, Unmut macht sich breit, es gibt Pfiffe, bis schließlich ein langhaariger junger Mann aufsteht und das DDR-übliche Prozedere so erklärt: "Als Gegenstimme wird ein Wahlzettel nur dann gewertet, wenn jeder einzelne Name durchgestrichen ist. Wer nur einzelne Namen streicht oder alle mit einem einzigen großen Kreuz durchstreicht, gibt eine Ja-Stimmen ab." Die Funktionäre sind wütend, und den anwesenden Stasi-Mitarbeitern ist klar, woher der junge Mann sein Wissen hat. Erst wenige Tage zuvor, am 24. April, hatte der in den Westen abgeschobene Bürgerrechtler und Journalist Roland Jahn im ARD-Magazin "Kontraste" erklärt, was man genau tun muss, um nach DDR-Lesart mit Nein zu stimmen.

Dass es in der Bevölkerung gärt, wird im Frühjahr 1989 häufig sogar im Stadtbild sichtbar. Immer wieder registriert die Stasi an Häuserwänden und Mauern illegale Losungen, die dazu aufrufen, die Wahl zu boykottieren oder mit Nein zu stimmen. Am Wahlsonntag selbst hat der Staat mehr als eine Million Wahlhelfer und Mitglieder der Wahlkommissionen aufgeboten, die die Prozedur wunschgemäß abwickeln sollen. Und tatsächlich verhalten sich die meisten DDR-Bürger auch diesmal wieder angepasst. Aber es gibt deutlich weniger "Arbeitskollektive" oder "Hausgemeinschaften", die sich besonders loyal zeigen und schon kurz nach der Eröffnung der Wahllokale gemeinsam zur Stimmabgabe erscheinen. Andererseits stellen einige DDR-Bürger fest, dass sie ihre Stimme gar nicht abgeben können, weil sie in den Wählerlisten nicht registriert sind. Schon im Vorfeld hatte die Stasi im Rahmen ihrer Aktion "Symbol" Zehntausende Namen von Oppositionellen, Ausreiseantragstellern und aufmüpfigen Kirchenmitarbeitern zusammengestellt und an die Wahlkommissionen weitergeleitet, um sie von den Listen streichen zu lassen.

Trotzdem benutzen so viele DDR-Bürger wie nie zuvor die Kabinen, manchmal bilden sich davor sogar Schlangen. Andere streichen demonstrativ offen die Kandidaten auf ihrem Wahlzettel einzeln durch. Je länger der Tag voranschreitet, desto düsterer werden die Gesichter der Wahlfunktionäre, denen längst klar ist, dass die geforderten 99 + x Prozent niemals erreicht werden können. Punkt 18 Uhr, als die Wahllokale geschlossen werden, erscheinen dann auch noch viele Menschen zur öffentlichen Stimmenauszählung, die sich schon in ihrem Aussehen und Auftreten eindeutig von SED-Parteigängern unterscheiden. Die Kontrolleure der Bürgerrechtsgruppen sind zwar bei Weitem nicht in allen, aber doch in vielen Wahllokalen dabei. So überwachen die Oppositionellen in Dresden zum Beispiel die Auszählung in 227 von 444 Wahllokalen, in Leipzig Mitte sind es sogar 83 von 84, in kleineren Städten und ländlichen Gebieten gelingt dies dagegen nur in viel kleinerem Maßstab. Dennoch ergeben die Daten, die die Gruppe an die in Ost-Berlin tätigen "Koordinierungsgruppe Wahlen" melden, einen eindeutigen Trend: Der Anteil der von ihnen registrierten Gegenstimmen liegt zwischen drei und 30 Prozent - für DDR-Verhältnisse ein sensationelles Ergebnis.

Doch als das Politbüro-Mitglied Egon Krenz am Abend im DDR-Fernsehen das offizielle Endergebnis verkündet, liegen die Jastimmen doch wieder bei 98,85 Prozent. Diesmal wird das nicht einfach so hingenommen. Noch am Abend des 7. Mai findet in der Leipziger Innenstadt die erste Demonstration gegen die Wahlfälschung statt. Demos gibt es auch in zahlreichen weiteren Städten, in Ost-Berlin zum Beispiel von nun an immer am siebten Tag jedes Monats.

Und auch sonst sind die Oppositionsgruppen aktiv: Am 19. Mai veröffentlicht die Berliner "Koordinierungsgruppe Wahlen" ihren ersten "Bericht über die Kommunalwahlen 1989", in dem die Fälschungen konkret nachgewiesen werden. Auch in vielen anderen Städten kann die Stasi die aus staatlicher Sicht natürlich illegale Veröffentlichung solcher Dokumentationen nicht mehr verhindern. Einigen wenigen SED-Spitzenfunktionären schwant, dass sie den Bogen diesmal überspannt haben. Um die Spuren dieses staatlich organisierten Betrugs zu verwischen, werden die Wahlunterlagen schon wenige Tage nach dem 7. Mai komplett vernichtet.

Die Zahl derer, die sich damals der Wahl verweigert oder mit Nein gestimmt haben, schätzt der Zeitgeschichtlicher Ilko-Sascha Kowalczuk, der Mitglied der Bundestags-Enquete-Kommission "Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit" war, auf etwa zehn Prozent. Dazu schreibt er: "Das wären immerhin weit mehr als zwei Millionen Menschen, die sich offen gezeigt hätten. Mit anderen Worten, der SED blieb gar nichts anderes übrig, als zu fälschen."

Bis in den Herbst hinein blieb die manipulierte Wahl eines der wichtigsten Themen der Protestbewegung. Im Rückblick kann man sagen: Schon am 7. Mai 1989 hat sich gezeigt, dass Lenin recht hatte, dass es in der DDR 1989 um mehr ging als um eine Krise: Die Herrschenden konnten nicht mehr wie bisher, und die Beherrschten wollten es nicht mehr.