Hans-Dietrich Genscher erlöste die Prager Botschaftsflüchtlinge. Ich saß mit meiner Frau und einem mulmigen Gefühl in Leipzig.

Hamburg. Als vor 20 Jahren die Prager Botschaftsflüchtlinge Hans-Dietrich Genscher auf seinem Balkon zujubelten, saßen meine Frau und ich in unserer Leipziger Wohnung mit einem mulmigen Gefühl vor dem Fernseher. Schön für die Landsleute, dass sie es endlich geschafft haben, dachten wir, aber was wird nun aus uns und unserem Ausreiseantrag? Würde die SED die Grenzen endgültig dichtmachen und den Widerstand im Land nun mit brutaler Gewalt brechen? Am 4. Oktober hörten wir dann fassungslos im Deutschlandfunk die Augenzeugenberichte von den fast bürgerkriegsähnlichen Szenen, die sich bei der Durchfahrt der Prager Botschaftszüge in Dresden abgespielt haben. Honecker setzt auf Gewalt, fürchteten wir, und vielleicht werden wir niemals in den Westen kommen. Nie zuvor habe ich mich so eingesperrt und so ausgeliefert gefühlt.

Wenn ich an diesem 3. Oktober, auf den Frühherbst 1989 zurückblicke, kommt mir das fast wie ein böser Traum vor. Umso unerwarteter war der glückliche Ausgang, den die Geschichte für das Land und auch für mich persönlich genommen hat. Ich durfte dabei sein, als am 9. Oktober 70 000 friedliche Demonstranten in Leipzig die SED-Herrschaft in die Knie zwangen. Und wenige Wochen später konnte ich ein neues Leben mit ungeahnten Möglichkeiten und Chancen in Hamburg beginnen, ohne die alte Heimat und meine alten Freunde aufgeben zu müssen.

Ich gebe zu, dass ich mich manchmal ärgere, und Anlass dazu gibt es genug. Ich ärgere mich über das Desinteresse mancher Westdeutscher an Ostdeutschland, über Vorurteile und Überheblichkeit. Ich ärgere mich darüber, dass manche Ostdeutsche die niemals geliebte DDR posthum auf einmal verklären und sich auf einem Niveau beklagen, von dem sie früher nicht einmal zu träumen gewagt hätten. Aber gerade im Rückblick auf den dramatischen Herbst 1989 stellt sich trotz dieses Ärgers immer wieder das Gefühl von Dankbarkeit ein, dass es die Geschichte am Ende dann so gut mit uns gemeint hat.

Ist es nicht die absolute Ausnahme, dass Revolutionen friedlich verlaufen? Erscheint es nicht fast unvorstellbar, dass die Teilung Deutschlands und Europas ohne Krieg und nahezu ohne Gewalt überwunden wurde?

Wie viel das alles wert ist, wird mir immer dann bewusst, wenn ich meinen beiden Söhnen von unserem früheren Leben erzähle und dabei in ihre manchmal fast ungläubigen Gesichter blicke. Mag ja sein, dass es Menschen in Deutschland gibt, die noch immer in Ost-West-Klischees denken, die Generation meiner Kinder tut es nicht. Wenn wir heute nach Leipzig fahren, ist das für meine Söhne keine Fahrt in den Osten, sondern ein Besuch bei Verwandten und Freunden.

Abendblatt-Kulturredakteur Dr. Matthias Gretzschel stammt aus Dresden, erlebte die Wende in Leipzig und kam Ende 1989 nach Hamburg.