In keiner anderen Stadt in Nordrhein-Westfalen gewinnen die Sozialdemokraten alle Wahlen so überlegen wie hier. Auch am Sonntag?

Bergkamen. Sechs rote Ballons, fünf Stehtische, ein Grill, ein Zapfhahn: Fertig ist der Straßenwahlkampf. Gut 30 Menschen haben sich auf einem kleinen asphaltierten Parkplatz versammelt. Sie stehen zwischen einer Bäckerei und einem Schreibwarenladen. Die SPD hat sie zum Dämmerschoppen eingeladen. Unter den Gästen ist Rüdiger Weiß. Er ist der wichtigste Mann an diesem milden sonnigen Abend, aber Weiß fällt kaum auf. Das mag an seinen 1,70 Meter liegen, vielleicht auch an seinem dunkelgrauen Sakko oder einfach an seiner Art. Er ist heiter und herzlich, er spricht phrasenfrei - und er stellt Fragen. Der 49-Jährige ist kein Politprofi. Er kandidiert zum ersten Mal für den Landtag. In der rechten Hand hält er eine Bratwurst, mit der linken fasst er sich nachdenklich ans Kinn. Das Geheimnis von Bergkamen zu ergründen fällt ihm nicht so leicht.

Rüdiger Weiß wird seinen Wahlkreis gewinnen, und sein Ergebnis wird die 50 Prozent sicher übertreffen. Vermutlich käme Weiß auch ohne Wahlkampf aus. Er tritt ja in Bergkamen an. Und dort gewinnt die SPD. Immer. Haushoch. Selbst 2005, als Rot-Grün im Land nach 39 Jahren an der Regierung abgewählt wurde, und selbst 2009 bei der Bundestagswahl war es so. Am 9. Mai wird es nicht anders sein. Woran das liegt? Das ist das Geheimnis von Bergkamen.

Auch wenn er nicht müsste, Rüdiger Weiß macht natürlich Wahlkampf in seiner Heimatstadt. Das gehört sich so. "Ich laufe mir die Hacken ab", sagt er. Andere Kandidaten vor ihm waren nicht so fleißig, haben aber auch gewonnen. Weiß leitet eine Hauptschule, er sieht sich als Bildungspolitiker. Und Bildung sei ein ganz großes Thema in Bergkamen, sagt er. Auf die 50 000 Einwohner kommen 15 Schulen.

Früher war Bildung nicht so wichtig. Es gab eigentlich nur einen Beruf: Bergmann. Hier zwischen Hamm und Dortmund, im östlichen Ruhrpott, war man früher stolz, sich die größte Bergarbeiterstadt in Europa nennen zu dürfen. Die Zeche Haus Aden galt als modernstes Bergwerk auf dem Kontinent. Die Steinkohle gab 10 000 Menschen Arbeit in der Stadt. Und wer als Kumpel in den Betriebsrat ging, war in der Regel auch in der SPD.

Vor zehn Jahren wurde Haus Aden geschlossen. Es war die letzte Zeche im Ort. Heute ist der Pharmakonzern Bayer-Schering der größte Arbeitgeber. Immerhin, 1500 Menschen sind dort angestellt. Der Rest arbeitet bei der Stadtverwaltung oder bei der Sparkasse. Eine Arbeiterstadt ist Bergkamen geblieben. Fast jeder im Ort hat einen Vater oder einen Onkel, der früher unter Tage war. Es scheint weiterhin zum guten Ton, zum solidarischen Miteinander zu gehören, die SPD zu wählen. Das gilt für den Bund, für das Land und für die Bürgermeister-Wahl sowieso. So war es schon früher, und Traditionen nimmt man hier ernst. Wer nicht Arbeiter ist, der zählt sich zumindest zur Arbeiterschicht. Auch viele Studierte, die beruflichen Aufsteiger, tun das.

Rüdiger Weiß ist so ein Aufsteiger. "Ich vergesse nicht, woher ich komme", sagt er. Sein Vater verlor im Krieg in Russland ein Bein, später war er immer wieder arbeitslos. Als Rüdiger Weiß elf war, starb der Vater. In seiner Familie ist er heute der Einzige mit einem Studium. Und jetzt wird er Berufspolitiker. "Die Nachbarn sind stolz", sagt Weiß. Für sie ist er immer noch der kleine Rüdiger, der es schwer hatte als Kind ohne Vater. Aber dafür hatte der kleine Rüdiger die SPD, die ihm Ämter und Selbstbewusstsein gab.

Weiß sitzt im Stadtrat, im Schulausschuss, im Kreistag und steht dem größten Bergkamener SPD-Ortsverein vor, dem von Oberaden. "Wir bleiben auf dem Teppich. Wir sind absolut bodenständig. Und wir versprechen nichts, was wir nicht halten können", versucht Weiß das Geheimnis von Bergkamen zu lüften.

Die SPD hat es hier leicht. Fast in jeder Familie gibt es ein Parteibuch. Und der Nachwuchs will mitmachen: Der Gastgeber des Dämmerschoppens ist 24 Jahre alt. Er heißt Christian Pollack, ein schmächtiger Kommunalbeamter, er leitet die SPD im Ortsteil Rünthe. Weit mehr als 1000 Mitglieder zählt die SPD in Bergkamen. Von dieser Mitgliederdichte können andere SPD-Ortsvereine nur träumen. Der Vorsitzende des großen Sportvereins ist in der Partei, auch der Chef der Hühnerzüchter-Vereinigung, die Vorsitzenden der Gewerkschaften gehören sowieso dazu. Die Gesamtschule ist nach Willy Brandt benannt. So etwas prägt. Tief in der Gesellschaftsstruktur der Stadt hat sich die Sozialdemokratie verankert.

Viele Jahrzehnte hat dieser Prozess gedauert, aber nur so konnte die SPD hier zu dem werden, was sie heute ist: mehr als nur eine Partei. Angeblich liegt die "Herzkammer der SPD" im benachbarten Dortmund. Herbert Wehner hat das einmal so festgestellt, und früher mag das auch so gewesen sein. In Bergkamen sind die Ergebnisse für die SPD längst besser als in Dortmund. Als sich Peer Steinbrück im Jahr 2000 erstmals um ein Landtagsmandat bewarb, wollte er auf Nummer sicher gehen. Er trat nicht in Dortmund an, sondern suchte sich den Wahlkreis "Unna II" aus. Mittendrin liegt Bergkamen. Steinbrück holte 59,1 Prozent, in Bergkamen direkt bekam er sogar 61,7 Prozent. 2005 schaffte er noch 55,9 Prozent im Wahlkreis, in Bergkamen selbst lag er bei 57,6 Prozent. Die Stadt hatte vollständig gegen den Trend gewählt und das beste Ergebnis für die SPD landesweit geholt. Im restlichen Nordrhein-Westfalen hatte die Partei mit zusammen 37,1 Prozent einen beispiellosen Niedergang erlebt. In Bergkamen hatte man ihr weiter vertraut.

Die Niederlagen der SPD, erst auf Landes- und dann auf Bundesebene, überraschten hier trotzdem niemanden. Wahlkämpfer Weiß sagt: "2005 war kein Betriebsunfall. Selbst die Gewerkschaften haben uns nicht mehr geholfen. Wir mussten also verlieren." Auch in Bergkamen fand man die Agenda 2010 natürlich nicht in Ordnung. Aber dafür wollte man die eigenen Genossen nicht abstrafen. Hier gab es keinen Gerhard Schröder, aber auch keine Amigo-Wirtschaft, keinen roten Filz, keine illegalen Spenden, keine Schmiergelder, so wie etwa in Köln. Dort sprach eine Zeitung nur noch von den "Korrumpels vom Rhein".

In Bergkamen verhält man sich solidarisch, natürlich auch gegenüber der eigenen SPD. Vor einem Jahr wurde der sozialdemokratische Bürgermeister mit 65,3 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. In anderen Orten war das nicht so. "Die Wähler wissen, wer hier für was verantwortlich ist", sagt Gerd Kampmeyer. Er ist auch zum Dämmerschoppen gekommen, ein netter, älterer Herr mit weißen Haaren und weißem Oberlippenbart. Kampmeyer leitet eine Grundschule, und er ist der Fraktionschef der SPD im Stadtrat. "Mit absoluten Mehrheiten zu regieren macht Spaß", sagt er. Er kennt es auch nicht anders. Das Geheimnis von Bergkamen erklärt sich der Kommunalpolitiker so: "Wir fassen alle Beschlüsse einstimmig mit den anderen Parteien. Wir wollen für unsere Entscheidungen auch die CDU-Stimmen. Und die bekommen wir." Das Verhältnis zur politischen Konkurrenz nennt Kampmeyer "richtig gut". Die CDU, die bei 25 Prozent dümpelt, ist eben keine Konkurrenz.

Daher kann sich die SPD wie eine Überpartei geben, die den gesellschaftlichen Konsens sucht und auch findet. So sieht man sich an diesem Abend zwischen Grill und Zapfhahn in dieser Stadt, wo die Zeit politisch stehen geblieben zu sein scheint. Fast möchte man meinen, die Sozialdemokratie habe an diesem Ort noch nie einen Fehler gemacht. Als habe die Sozialdemokratie nie Frust ausgelöst, nie Streit verursacht, nie auf die falschen Köpfe gesetzt. Auch in die Kirche gehen die besonders treuen Gläubigen jeden Sonntag, ganz gleich wie gut die Predigt ist. Vielleicht muss man sich das mit der SPD und den Bergkamenern genauso vorstellen.

An dem Stehtisch von Herrn Weiß und Herrn Kampmeyer wird es voller. Ein Mann mit gediegener Fönfrisur gesellt sich zu ihnen, er trägt ein beigefarbenes Hemd, eine braune Krawatte und einen braunen Anzug. Er erinnert an Franz Müntefering, nur zwei Köpfe größer. Er heißt Bernd Schäfer, er leitet eine Sparkassen-Filiale. Aber viel bedeutender ist, dass er der SPD-Chef in der Stadt ist. Über das Geheimnis von Bergkamen sagt Schäfer: "Wir treffen natürlich auch unangenehme Entscheidungen. Aber vieles wird im Nachhinein von den Bürgern als richtig empfunden." Auch in Bergkamen wurden Schwimmbäder und Büchereien geschlossen. Aber die Stadtvertreter renovierten dafür ein Hallenbad und ein Freibad. "Diese Bäder sind jetzt viel besser als vorher. Und das sehen die Bürger", sagt Schäfer.

Bergkamen hat den Strukturwandel weg von der Kohle hin zu einer ganz normalen Infrastruktur geschafft. Die Arbeitslosenquote in der Region wird mit 10,2 Prozent angegeben, der Landesschnitt liegt nur wenig darunter. Die SPD-Politiker erzählen das hier mit Stolz. Im Herzen sind sie Arbeiter geblieben, so wie ihre Väter und Onkel es waren. Sie halten die Leistung der Vorfahren in Ehren. Aus einer der Zechen haben sie ein Kulturzentrum gemacht. Eine Straße ist nach dem "Schacht III" benannt worden. Aber an die Vergangenheit will man sich nicht klammern.

Direkt am Datteln-Hamm-Kanal hat sich die Stadt einen schmucken Sportboothafen gebaut. Die "Marina Rünthe" hat 250 Liegeplätze, dahinter ein feines Hotel und einige Restaurants. Hier sieht Bergkamen fast so aus wie ein Ferienort an der Ostsee. Man muss sich im Hintergrund nur den 284 Meter hohen Schornstein des Steinkohlekraftwerks wegdenken.

Vom Hafen zum Dämmerschoppen sind es vielleicht zwei Kilometer. Auf dem Weg sieht man keine Wahlplakate. Nur einmal grüßt SPD-Spitzenkandidatin Hannelore Kraft an einer Kreuzung. Ministerpräsident Jürgen Rüttgers ist nicht plakatiert. Auch nicht die Linkspartei. In Bergkamen hat sie nicht einmal einen eigenen Ortsverband.