Gabriel (SPD), Roth und Özdemir (Grüne) wollen “die Zukunftskoalition“ bilden. CDU und FDP gehen in Steuerfragen wieder auf Distanz.

Berlin. Das Wort Liebesheirat ist in der Politik zwar etwas in Misskredit geraten, nachdem sich die vermeintlichen Wunschpartner CDU/CSU und FDP auf der Berliner Regierungsbühne so oft in die Haare geraten sind, aber SPD und Grüne kann das offenbar nicht abschrecken. Die beschworen vor der Bundespressekonferenz gestern ihre Gemeinsamkeiten. Rot-Grün sei "die Zukunftskoalition", tönte Vorsitzender Sigmar Gabriel, und Grünen-Chefin Claudia Roth verkündete, dass man entschlossen sei, Jürgen Rüttgers (CDU) und Andreas Pinkwart (FDP) am 9. Mai "die rot-grüne Karte" zu zeigen. Es gehe um die "ökologisch-solidarisch-soziale Wende".

Einen kleinen Schönheitsfehler kriegte die harmonische Darbietung dann allerdings doch noch, als Gabriel der Satz herausrutschte, wenn man für die NRW-Wahl genügend Wähler mobilisieren könne, dann hätte Rot-Rot-Grün die Mehrheit. Und das, nachdem die nordrhein-westfälische SPD-Spitzenkandidatin in der vergangenen Woche endlich die lang erwartete Erklärung abgegeben hatte, dass eine Koalition mit der Linkspartei nicht infrage komme. Gabriel korrigierte seinen Versprecher zwar eilig - "Da saß die Angst im Nacken bei mir!" -, aber bekanntlich lassen freudsche Versprecher tief blicken.

Zum ersten Mal seit 2005 sind die Parteispitzen von SPD und Grünen gestern gemeinsam vor die Öffentlichkeit getreten. Sie träumen wieder den rot-grünen Traum. Deshalb flankierten die Chefs der Bundesparteien ihre Spitzenkandidatinnen aus NRW, Hannelore Kraft (SPD) und Sylvia Löhrmann (Grüne). Deshalb geißelten sie Kopfpauschale, Steuerreform, Zeit- und Leiharbeit und den Ausstieg aus dem Atomausstieg. Mit dem Bundesrat als Hebel werde man nach der NRW-Wahl das "schwarz-gelbe Durchregieren verhindern", sagte Roth. Und Kraft sekundierte, NRW müsse wieder werden, was es früher gewesen sei: "Das soziale Gewissen des Landes."

Gemeinsam wollen Gabriel, Roth und Özdemir am 9. Mai "den ersten Stein aus der schwarz-gelben Mauer brechen", und sie träumen den rot-grünen Traum sogar schon für Berlin. Sigmar Gabriel verstieg sich in diesem Zusammenhang zu der Formulierung, er wünsche sich, dass Deutschland künftig wieder "sozial-liberal" regiert werde - allerdings nicht mit der FDP, sondern mit den Grünen. "Die Grünen sind für mich im besten Sinne des Wortes die neue liberale Partei dieses Landes" meinte der SPD-Vorsitzende, "eine andere haben wir nicht mehr." Roth und Özdemir vernahmen das mit sichtlichem Vergnügen, die beiden Spitzenkandidatinnen wirkten knapp drei Wochen vor der Wahl allerdings nicht ganz so entspannt.

Hannelore Kraft und Sylvia Löhrmann kreierten zwar immer neue unfreundliche Synonyme für Jürgen Rüttgers ("Hü-hott-Politiker", "Sozialschauspieler") und seine bisherige Politik ("marktradikaler Spuk"), aber bei der Gretchenfrage wurde es den beiden Politikerinnen dann doch ein bisschen ungemütlich. Warum sie denn Schwarz-Grün nicht ausschließe, wenn Jürgen Rüttgers für sie ein solch schreckliches rotes Tuch sei, wurde Löhrmann gelöchert. Und Kraft musste sich die Frage gefallen lassen, warum sie ein Bündnis mit der Linken explizit ausgeschlossen habe, nicht aber die eventuelle Große Koalition mit der vermeintlich so schlimmen Rüttgers-CDU.

Daraufhin war dann etwas lahm von einer "Erstoption" die Rede, und dass man im Augenblick nicht vorhabe, über "zweite Optionen" zu diskutieren. "Über die", so Löhrmann plötzlich schmallippig, "sprechen wir heute nicht."

Über die wird aber spätestens dann zu reden sein, wenn die Linken den Sprung in den Düsseldorfer Landtag schaffen. Und genau danach sieht es, wenn man sich die Umfragen anschaut, ja zurzeit aus.

Liberale klagen auch in Nordrhein-Westfalen über Koalitionspartner

Das liberale Gemüt wirkt gereizt in diesen Tagen. In den Umfragen vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen dümpelt die FDP zwischen sechs und sieben Prozent - und damit weit entfernt vom Wahlziel "zehn Prozent plus X", das Parteichef Guido Westerwelle erst am Wochenende ausgegeben hatte. Dann distanzierte sich auch noch Regierungschef Jürgen Rüttgers (CDU) von den Liberalen. Und nun muss die Partei auf Bundesebene mal wieder um ihre Steuerpläne kämpfen, diesmal nicht nur gegen Stimmen aus der Union, sondern auch gegen die Äußerungen einiger Steuerschätzer.

Aus dem Expertenkreis, der Anfang Mai eine offizielle Einnahmenprognose für die Bundesregierung abgeben wird, hieß es bereits hinter vorgehaltener Hand, dass sich die Hoffnungen der schwarz-gelben Koalition auf einen raschen und kräftigen Wiederanstieg der Steuereinnahmen kaum erfüllen werden. Die Steuerschätzung in gut zwei Wochen wird demzufolge keine Überraschung bringen - weder positiv noch negativ. "Große Änderungen gegenüber den bisherigen Prognosen wird es nicht geben", sagte ein Steuerschätzer der Nachrichtenagentur dpa. "Das Gerede der Politik, es müsse vor Reformen die Steuerschätzung abgewartet werden, ist großer Quatsch." Die "Süddeutsche Zeitung" berichtete, der Bund werde in diesem Jahr voraussichtlich mit Einnahmen von etwa 215 Milliarden Euro auskommen müssen. 2011 könnten es gut 220 Milliarden Euro sein. Das entspräche in etwa den Werten, die sich bei den beiden vorangegangenen Steuerschätzungen ergeben hatten. Es sind nicht die rosigen Zahlen, die die FDP erhofft hatte. Und nachdem Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) die Bezahlbarkeit des neuesten FDP-Steuerkonzepts mit fünf Stufen in Zweifel gezogen hatte, scheint der 16 Milliarden teure Kompromissvorschlag der Liberalen quasi abgelehnt.

FDP-Generalsekretär Christian Lindner blieb gestern gar nichts anderes übrig, als sich stur zu stellen: Die Rahmenbedingungen des Haushalts seien allen klar gewesen und hätten sich seitdem nicht verändert, sagte er. "Jeder wusste, das umzusetzen, setzt Courage voraus. Und diese Courage und Standfestigkeit erwarten wir jetzt auch."

Lindner appellierte an Schäuble, in diesem Bereich den Koalitionsvertrag rasch mit Leben zu füllen. "Es muss sichergestellt sein, dass wir im Jahr 2011 noch mögliche Steuervereinfachungen beschließen können." So schnell will die CDU aber keine Entscheidungen treffen. Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) sagte dem ZDF: "Wir haben jetzt hinreichend Zeit, über einen Zeitraum von fast zwei Jahren genau zu überlegen, wie diese Steuerreform aussieht."

Die Stimmung zwischen CDU und FDP ist in Nordrhein-Westfalen derzeit kaum besser als in der Bundesregierung: In Wahlkampfzeiten ist jede Partei sich offenbar selbst die nächste - ganz gleich, ob man miteinander regiert. Die Liberalen in NRW haben sich inzwischen daran gewöhnt, dass Rüttgers bei seinen Auftritten routiniert wiederholt, dass er nicht für zehn Prozent der Wähler, sondern für das gesamte Land Politik machen wolle. Diese Abgrenzung haben sie stillschweigend erduldet. Jetzt aber ist dem Juniorpartner des Regierungschefs der Kragen geplatzt. Die FDP ist erzürnt über Rüttgers, weil er am Wochenende auf deutliche Distanz zu den Liberalen gegangen war. So hatte er dem bisherigen Motto der Landesregierung "Privat vor Staat" eine Absage erteilt und vor neoliberalen Plänen gewarnt.

Der Chef der FDP-Landtagsfraktion, Gerhard Papke, sprach in der "Rheinischen Post" von einer "bemerkenswerten Distanzierung" des Regierungschefs. Er hoffe nicht, dass mit Rüttgers' Bemerkungen eine "weitere Annäherung der CDU an die Grünen verbunden ist. Es gibt genügend sozialdemokratische Parteien."