Eine Familie verliert ihren achtjährigen Sohn, ein trauernder Vater wird zum Helden, und eine erfolgreiche Läuferin aus Deutschland kann sich nicht mehr freuen.

Berlin/Washington. Es war ein Tag, der für viele Bürger Bostons mit einem Pfannkuchenfrühstück begann, mit idealem Wetter und der Vorfreude auf den vor ihnen liegenden Feiertag und den Marathon, der jährlich Zehntausende ins Stadtzentrum zieht. Und an dessen Ende klar war, dass die Stadt wohl nie wieder einen unbeschwerten „Patriots’ Day“ feiern wird. Zwei Explosionen innerhalb von zwölf Sekunden, und an die Stelle von Anfeuerungsrufen und Applaus traten Schreie des Entsetzens, Blut und Rauch. Doch neben der Trauer, die jetzt nicht nur Angehörige der Toten und Verletzten empfinden, neben dem Trauma, das der schlimmste Anschlag seit dem 11. September 2001 in der ganzen Stadt ausgelöst hat, stehen auch die Selbstlosigkeit und der Mut, mit der Anwohner und Zuschauer den Opfern zu Hilfe eilten. Drei Geschichten:

Die Opfer

Es war eine der ersten, scheußlichen Gewissheiten: Unter den Toten ist ein kleiner Junge. Martin Richard, acht Jahre alt, war mit seinen Eltern und zwei Geschwistern aus dem Vorort Dorchester angereist. Vater Bill Richard sei wenige Minuten vor der ersten Explosion über die Ziellinie gelaufen, rekonstruiert der „Boston Globe“ die Tragödie der Familie. Stolz lief der kleine Martin zu seinem Vater und gratulierte ihm mit einer Umarmung zu seinem Lauf. Dann ging Bill geradeaus weiter – wäre Martin mit ihm mitgekommen, wäre er jetzt wahrscheinlich noch am Leben. Doch Martin lief zurück zu seiner Mutter auf dem Bürgersteig. Dort erfasste ihn die Bombe.

Die Familie Richard muss nicht nur den Tod des kleinen Martin verkraften: Seiner sechsjährigen Schwester Jane wurde ein Bein abgerissen, sie und Mutter Denise sind mit „schrecklichen“ Verletzungen im Krankenhaus. Denise Richard musste am Hirn operiert werden. Allein der älteste Sohn Henry, 12, und Vater Bill sind unversehrt.

Freunde der Richards organisierten spontan ein Treffen in einem Restaurant in der Nachbarschaft, um auf Neuigkeiten zu warten und zu beten. Bill Richard spielt eine herausragende Rolle in der Gemeinde, viele Menschen hier kennen die Richards und ihre Kinder. „Sie sind in diesem Stadtteil sehr beliebt“, sagte die Stadträtin Ayanna Pressley. „Sie tragen in so vielen Aspekten zum Leben hier bei. Deshalb sehen sie so viele Menschen hier.“ Pressley beschrieb die Vorgänge als „surreal, tragisch und unfassbar. Alle hier versuchen einander Trost zu spenden und zu beten.“ In der Nacht brannte auf den Stufen vor dem Haus der Richards eine Kerze, auf den Bürgersteig hatte jemand in großen Lettern mit Kreide das Wort „Frieden“ aufgemalt.

Über die anderen beiden Toten ist kaum etwas bekannt – eines der Opfer soll eine Frau Anfang 20 sein. Insgesamt wurden mindestens 144 Menschen verletzt, 17 davon schwer, und auch unter ihnen sind mehrere Kinder. So wurde ein zweijähriger Junge am Kopf verletzt.

Die Helden

Roupen Bastajian, 35, Polizist aus Rhode Island und ehemaliger Marine-Infanterist, lief selbst den Marathon und war kurz vor dem Ziel, als es geschah. Wäre er nur etwas langsamer gelaufen wie 2011, hätte ihn die Explosion getroffen. Bastajian sah die Blutlachen, „so viele Menschen ohne Beine … diese Läufer hatten gerade einen Marathon beendet“, stöhnte er, „und nun haben sie keine Beine mehr“. Er half, fünf oder sechs Beine abzubinden. Ein früherer Profifootballer der Packers, Joe Andruzzi, trug auf seinen mächtigen Armen eine Frau in Sicherheit. Ein Feuerwehrmann schob eine Frau im Rollstuhl im Laufschritt vom Tatort in Obhut und kehrte um. Und dann war da Carlos Arredondo, 52, der Mann mit dem Cowboyhut. Er zählt schon jetzt zu den Ikonen des Bostoner Anschlags. Ein Foto in der „Washington Post“ zeigt Arredondo an der Seite eines jungen Mannes im Rollstuhl, einen Riemen zum Abbinden des rechten Beines haltend. Ein Polizist läuft vor ihm mit blutverschmierten Gummihandschuhen; es scheint als starre er auf die Beine des jungen Mannes, der im Schock, bedeckt von Staub und von Schmutz befleckt so schmerzhaft an die Opfer von „9/11“ erinnert. Die Explosion hat ihm beide Unterschenkel abgerissen. Arredondo berichtete über die Szene an Jeffs Seite: „Ich sagte nur immer zu ihm: Bleib wach, bleib bei uns.“

Carlos Arredondo, ein Einwanderer aus Costa Rica, erlebte am Montag in Boston die dritte Katastrophe seines Lebens . Die ersten beiden brachten ihn fast um: Im Jahre 2004 fiel sein Sohn, Marineinfanterist im Irak; sieben Jahre danach wählte sein Sohn Alexander Brian den Freitod nach Jahren der Depressionen und Drogenabhängigkeit. Als der Vater von den Marines erfuhr, dass sein Sohn tot war, übergoss er sich mit Benzin und zündete sich an. Er wurde gerettet. Zehn Monate verbrachte er im Krankenhaus mit Verbrennungen zweiten und dritten Grades auf einem Fünftel seines Körpers. Man versteht, warum Carlos Arredondo keine Angst mehr hat.

Auf Facebook bittet der Vater von Jeff nun um Gebete für seinen Sohn. Er sei an den Beinen operiert worden, sein Zustand stabil. „Ich kann nicht erklären, was in Menschen vorgeht, die anderen so etwas antun. Ich verliere wirklich den Glauben an unser Land.“ Ein anderer fügte einen mannhaften Dank an den Helfer hinzu: „Carlos Arredondo sollte nie mehr in dieser Stadt für seine Drinks bezahlen müssen.“

Die Sportlerin

Als die Sprengsätze detonierten, saß Sabrina Mockenhaupt in ihrem Hotelzimmer und atmete schwer. Ihr erster Marathon in den USA wird Deutschlands bester Langstreckenläuferin für immer in schrecklicher Erinnerung bleiben. Drei Stunden nachdem Mockenhaupt als Zehnte die Ziellinie des Boston-Marathons überquert hatte, explodierten am Streckenrand die Sprengsätze und rissen mindestens drei Menschen in den Tod. Die Polizei berichtete von zwei Explosionen mit 23 Verletzten. „Ich bin nach dem Rennen in mein Hotelzimmer unter die Dusche gegangen. Als ich wieder zurück in die Hotellobby kam, war plötzlich alles anders“, sagte Mockenhaupt der „WAZ“. Sie habe „sehr viele Verletzte, Polizei und Helfer“ gesehen, das Hotel durfte vorerst niemand verlassen. Auch auf Twitter schrieb sie. Die 32-Jährige war in Sicherheit, fassen konnte sie die Szenen unmittelbar vor ihrer Tür jedoch nicht. „Hier sitzen alle vor dem Fernseher, schauen die Bilder auf CNN. Draußen werden jetzt die Verletzten weggetragen. Sie wurden erst in das weiße Zelt gebracht, durch das ich vor wenigen Minuten nach meiner Zielankunft noch durchgelaufen bin. Unglaublich. Unfassbar. Ich bin total geschockt.“ Mockenhaupt gab zu, bereits vor der Veranstaltung „ein komisches Gefühl“ gehabt zu haben. „Es passieren ja so viele Dinge. Und der Boston-Marathon ist eine der größten Sportveranstaltungen in den USA. Schrecklich, was hier passiert ist“, sagte die Läuferin von der LG Sieg. Bis tief in die Nacht berichtete Mockenhaupt auf ihrer Facebook-Seite, die anfängliche Freude über ihren zehnten Platz war längst verflogen: „Ich bin total aufgedreht, mein Rennen ist total weg, und daran denke ich gar nicht mehr! Ich realisiere immer mehr, was hier passiert ist! Es ist wirklich traurig, und ich frage mich immer noch, warum!?“