Prozess mit 38 Angeklagten, 500 Zeugen und 50.000 Aktenseiten hat begonnen. Es geht um einen der größten Korruptions- Skandale des Landes.

Brasilia. Es ist ein wahrer Mammutprozess: Im größten Korruptionsprozess in der Geschichte Brasiliens müssen sich seit Donnerstagabend (Ortzszeit) 38 Angeklagte verantworten. Sie gehören alle der regierenden Arbeiterpartei an, darunter der einstige Kabinettschef José Dirceu sowie weitere Mitglieder der früheren Regierung unter Präsident Luíz Inácio Lula da Silva. Ihnen wird vorgeworfen, ein ausgeklügeltes System zur Bestechung von Abgeordneten des Parlaments zur Sicherung ihrer Stimmen unterhalten zu haben. Lula da Silva selbst ist nicht unter den Angeklagten. Das Fernsehen überträgt den Prozess live.

Die Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof wird von Beobachtern als wichtiges politisches Signal in einem Land gewertet, dessen öffentlicher Dienst lange von Korruption und Straffreiheit geprägt war. „Es ist eine Wende. Die Brasilianer erleben, wie jemandem, der der Korruption beschuldigt wird, tatsächlich der Prozess gemacht und vielleicht verurteilt wird. Straflosigkeit funktioniert nicht mehr“, sagte David Fleischer, Politikwissenschaftler an der Universität von Brasilia.

Dirceu wird beschuldigt, regelmäßige Schmiergeldzahlungen an Abgeordnete verbündeter Parteien in die Wege geleitet zu haben, um nach dem Wahlsieg 2003 deren Stimmen für die Arbeiterpartei zu sichern. Dabei sollen Politiker Summen bis zu 20.000 Real (8.000 Euro) erhalten haben. Der Fall ist in Brasilien als „mensalão“ (große monatliche Zuwendung) bekannt.

Wegen seiner hohen politischen Stellung hat Dirceu, einer der Gründer der Arbeiterpartei, wie einige wenige weitere Angeklagte das Recht, dass sein Fall vor dem Obersten Gericht verhandelt wird. Die Richter unter Vorsitz von Gerichtspräsident Carlos Ayres Britto entschieden aber laut einem Bericht des brasilianischen Senders Globo, die Anklage gegen alle 38 Beschuldigte als einen Fall zu behandeln. Die 50.000-seitige Klageschrift umfasst 1.089 Anklagepunkte, darunter Korruption, Geldwäsche, Missbrauch öffentlicher Gelder und Unterschlagung.

Die Anwälte Dirceus haben die Vorwürfe zurückgewiesen. Er und andere Berater des damaligen Präsidenten Lula da Silva waren nach dem Bekanntwerden der Vorwürfe 2005 zurückgetreten. Der überaus populäre Lula da Silva wurde ungeachtet des Skandals wiedergewählt, heute regiert seine Parteifreundin Dilma Rousseff das Land.

+++Rousseff als erste Präsidentin von Brasilien vereidigt+++

+++Jetzt hat eine Frau das Sagen in Brasilien+++

Wenn in Brasilien etwas Großes zum Ausdruck gebracht werden soll, wird einem Wort kurzerhand ein „ão“ angehängt. Aus einem „Amigo“ (Freund) wird so schnell ein guter „Amigão“. Das klingt gut und auch nach mehr. In einem der größten Korruptionsskandale des Landes sollen Kongressmitglieder für ihre Zustimmung zu Regierungsprojekten stattliche Monatszuwendungen eben ein „Mensalão“, erhalten haben. Der Skandal erschütterte die Regierung von Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in der ersten Amtszeit (2003-2006). Die Schatten der Vergangenheit sind lang. Die Affäre beschäftigt nun den Obersten Gerichtshof.

Die Liste der Angeklagten liest sich wie ein „Who is Who“ der früheren Politprominenz der seit 2003 regierenden Arbeiterpartei PT, der Lula und auch seine Nachfolgerin Dilma Rousseff angehören. Ganz oben steht José „Zé“ Dirceu, eine der schillerndsten PT-Figuren und Ex-Kabinettschef Lulas. Er ist nach Ansicht der Staatsanwaltschaft der „Kopf einer Bande“, die systematisch öffentliche Mittel in Millionenhöhe veruntreute und über Umwege an Kongressmitglieder und Parteien weiterleitete. Dirceu kämpfte gegen die Diktatur, floh nach Kuba, kam zurück, war Mitgründer der PT, lange Parteistar und galt als möglicher Lula-Nachfolger.

Zudem stehen ein Ex-Parteichef und ein Schatzmeister der PT vor Gericht. Auch Unternehmer und Banker sollen an dem Schmiergeld-System beteiligt gewesen sein. 2005 machte der selbst mit Korruptionsvorwürfen konfrontierte Abgeordnete Roberto Jefferson seinem Unmut Luft und zerrte das „Mensalão“-System in einem Interview an die Öffentlichkeit. 2006 wurde beim Obersten Gerichtshof Klage eingereicht, die 2007 angenommen wurde. Fünf Jahre später lief nun der Prozess an.

Der von Amtswegen zur klaren Sprache neigende Generalstaatsanwalt Roberto Gurgel definiert die Affäre in Superlativen: „Das dreisteste und skandalöseste Schema für Korruption und Unterschlagung öffentlicher Gelder, das in Brasilien aufflog.“ Nur muss das auch bewiesen werden. Die Verteidiger, die in den nächsten Wochen zu Wort kommen sollen, sind sich sicher, dass es nicht zur Verurteilung kommen wird. „Es gibt keinen einzigen Beweis“, konterten Dirceus Rechtsanwälte, die eine Vorverurteilung ihres Mandaten anprangern.

Die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit dürfte dem Prozess sicher sein. Etwa zwei Monate wird die Verhandlung dauern, die auch über den Justiz-Fernsehkanal live zu verfolgen ist. Die Urteilsverkündung käme zeitlich dem wichtigen Kommunalwahltermin am 7. Oktober nahe, bei dem auch die Bürgermeister der Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo gewählt werden. Korruptionsskandale sind aber kein Alleinstellungsmerkmal der Lula-Amtszeit. Der Regierung Rousseff kamen seit Juni 2011 sieben Minister wegen Korruptionsvorwürfen abhanden.

Doch all diese Abgänge zusammengenommen sorgten nicht für eine solche Erschütterung wie die „Mensalão“-Affäre. Die Vorwürfe sind massiv, und es drohen Haftstrafen von einem bis maximal 12 Jahren. Doch zweifeln viele in Brasilien, dass es zu Verurteilungen kommt. „Es wird sein wie immer. Alles endet mit Pizza“, sagt Taxi-Fahrer Felipe, der damit ein in Brasilien gängiges Bild zeichnet, bei dem sich die Kontrahenten zunächst öffentlich beharken und wüst beschimpfen und abends dann gemeinsam in trauter Runde in die Pizzeria gehen.