Italiens Premierminister hat noch jeden Skandal ausgesessen. Im Falle von Noemi Letizia (18) könnte das anders werden. Berlusconi muss sich auch politisch erklären.

Rom. Italien steht im Banne eines Märchens. Es ist eine Geschichte mit guten unschuldigen Mädchen und bösen Männern, ein Märchen von der Nutzlosigkeit der Macht. Und ein Märchen, das Italiens Regierungschef mächtig unter Druck setzt, wenn es plötzlich wahr wird.

Wenn es stimmt, was Noemi Letizia an ihrem 18. Geburtstag erzählte, dann saß der mächtige Silvio Berlusconi in seinem Regierungspalast, dem Palazzo Chigi, und langweilte sich. Der Sohn eines kleinen Bankangestellten, der ein gigantisches Fernsehimperium aufbaute und heute mit etwa 9,6 Milliarden Euro der reichste Mann Italiens ist, hätte ja irgendetwas tun können, zum Beispiel seinen Außenminister feuern, dem Trainer des AC Mailand die Aufstellung diktieren oder dem Chef seiner drei Fernsehsender auftragen, er solle das Programm ändern, weil er jetzt einen ganz bestimmten Film sehen wollte. Er hätte mit einer Regierungsmaschine in eine seiner Villen auf Sardinien oder Barbados fliegen können, mit seinem Freund Wladimir Putin telefonieren - aber das alles langweilte ihn vermutlich.

Wenn es stimmt, was Noemi Letizia erzählt, hatte ein enger Freund Berlusconis ein Buch auf dem Tisch des Ministerpräsidenten vergessen. Der gelangweilte mächtigste Mann Italiens blätterte darin herum und fand ein paar erotische Fotos eines Mädchens aus Portici, einem Vorort von Neapel. Das Buch war das Verzeichnis einer Model-Agentur. Berlusconis Sender brauchen Nachschub an jungen Mädchen, die fast unbekleidet vor der Kamera herumhüpfen. Der Ministerpräsident blätterte weiter, fand tatsächlich die Telefonnummer des Mädchens und rief es an.

Noemi Letizia, damals 17 Jahre alt, hörte, wie ein Mann am Telefon sagte: "Du wirst es nicht glauben, ich bin es wirklich, Silvio Berlusconi." Später flötete er noch, dass er vom "engelsgleichen Gesicht Noemi Letizias" fasziniert sei.

Was Silvio Berlusconis Koalitionspartner später nicht begreifen: Warum begab sich der Ministerpräsident so naiv in die Hände einer 17-Jährigen? Musste er nicht wissen, dass so ein Mädchen kaum schweigen kann?

Aber gerade das ist ja das Besondere an Silvio Berlusconi und seiner Karriere.

Der Cavaliere sah sich schon immer als der Mann, der über allen steht. Der Selfmade-Mann, der als Bauunternehmer Mailands Satellitenstadt "Milano 2" baute und allen Einwohnern einen Kabelfernsehsender als Kaufanreiz anbot. Daraus entstanden seine drei Fernsehsender Canale 5, Retequattro, Italia 1, wahre Goldgruben. Als die Politik beschloss, seine Medienmacht zu beschränken, wurde er eben selber Ministerpräsident - und schuf Gesetze, die es unmöglich machten, gegen ihn vorzugehen. Ein Mailänder Gericht stellte vor einer Woche fest, dass Silvio Berlusconi zwar einen britischen Anwalt mit 600 000 Dollar bestochen hat, es aber nichts gegen ihn unternehmen kann.

Derzeit träumt der 72-Jährige gerade vom Amt des Staatspräsidenten. Und wenn sein Mandat als Ministerpräsident ausläuft, hat er gute Chancen, bis zum Lebensende nicht mehr von der Justiz belangt werden zu können.

Noemi Letizia jedenfalls suchte aus der ungewöhnlichen Freundschaft mit dem mächtigen Mann Kapital zu schlagen. Im November 2008 soll Berlusconi sie telefonisch in den superschicken Palazzo Madama eingeladen haben, zu einem Abendessen, das er für die wichtigsten Modedesigner Italiens, die Ferragamos und Versaces, die Zegnas und Biagiottis, gab. Berlusconis Berater werden später nicht verstehen, warum an seinem Tisch auch für Noemi gedeckt wird. Für geheime Treffen mit einem Mädchen hätte Silvio Berlusconi allein in Italien ein Dutzend verschwiegener Villen zur Verfügung - da muss er sie nicht in den Regierungspalast zum Galadiner einladen.

Doch so kennen die Italiener ihren Silvio Berlusconi, so lieben sie ihn vielleicht sogar. Was soll ihm schon passieren? Er regiert mit der solidesten Mehrheit, die es je in einem italienischen Parlament gegeben hat. Er kann es sich leisten, eine wunderschöne Frau wie Mara Carfagna zur Gleichstellungsministerin zu machen und ihr zu sagen, er würde überall mit ihr hingehen.

Die Opposition widert solches Verhalten an. Aber sie ist machtlos, denn sie liegt am Boden. Und Berlusconi hat noch immer die Wähler auf seiner Seite. Die Italiener glauben, er brauche sich nicht in seinem Amt zu bereichern wie viele andere Politiker vor ihm - denn reich ist er schon, käuflich auch nicht. Er kauft lieber selbst.

Silvio Berlusconi schien endlich etwas gefunden zu haben, was ihn, den Mächtigen, nicht langweilte. Er lud Noemi für die Zeit zwischen Weihnachten und dem 6. Januar 2009 in seine Super-Villa auf Sardinien ein. Der gemeinsame Urlaub muss das Verhältnis zu Noemi gestärkt haben, denn er entschloss sich, ihr einen Wunsch zu erfüllen, den er eigentlich beim besten Willen nicht erfüllen konnte: nach Casoria zu kommen, zu ihrem 18. Geburtstag, es ist der 26. April. Und doch erschien er - und schaffte sich damit einen neuen mächtigen Feind: seine Frau. Veronica Lario platzte der Kragen, sie reichte die Scheidung ein und verbreitete über ihren Mann, dass er "mit Minderjährigen verkehre". "Er ist bei keinem einzigen der drei 18. Geburtstage unserer gemeinsamen drei Kinder gewesen", sagte sie.

Statt reinen Tisch zu machen, flüchtet Silvio Berlusconi jetzt in eine ganze Reihe von Erklärungen, die sich später als glatte Lügen herausstellen. Er behauptet, dass er Noemi nie ohne das Beisein ihrer Eltern gesehen habe. Falsch: ihre Eltern waren weder auf Sardinien noch beim Abendessen mit den Designern. Berlusconi bleibt auch bei der Darstellung, er habe Noemi durch eine enge Freundschaft mit ihrem Vater kennengelernt, denn der sei der Fahrer des Chefs der Sozialisten, Bettino Craxi, gewesen. Auch falsch: Noemis Vater Elio war nie Fahrer, schon gar nicht von Craxi.

Die Opposition wittert endlich Morgenluft in ihrem unendlichen Kampf gegen den allmächtigen Premier. Der ehemalige Starstaatsanwalt und Oppositionspolitiker Antonio di Pietro will ein eigentlich aussichtsloses Misstrauensvotum einbringen - nicht wegen Noemi, sondern wegen der Bestechung des Anwalts. Berlusconis Gegner verlangen einen ebenso aussichtslosen Untersuchungsausschuss.

Nach italienischem Recht hat Silvio Berlusconi bisher kein Gesetz gebrochen. Für die Unwahrheit, er kenne Noemi Letizia kaum, wird ihn kein italienisches Gericht belangen. Elio Letizia, Noemis Vater, will jetzt sogar vor Gericht beweisen, dass Noemi außerdem noch Jungfrau sei. Alles in Butter also? Nicht ganz:

Berlusconis Koalitionspartner gehen auf Distanz, die Arbeitsessen fallen aus, man will zunächst sehen, wie die katholische Wählerschaft auf die Affäre reagiert, wie stark Silvio Berlusconi bereits beschädigt wurde.

Es ist einsam um ihn geworden im Palazzo Chigi. Die Macht hat Silvio Berlusconi diesmal nicht genützt. Das einzige, was ihn offensichtlich nicht langweilte, war diese seltsame Beziehung zu einer Minderjährigen. Das Mädchen wollte oder konnte nicht schweigen. Verliebt in ihn war sie wohl auch nicht.

Ganz Italien und die halbe Welt fragt sich jetzt, was für einen Charakter eigentlich ein 72-jähriger Ministerpräsident hat, der, um sich die Zeit zu vertreiben, in einer langweiligen Nacht vom Regierungspalast aus eine 17-Jährige anruft. Was er wirklich von ihr wollte, bleibt bis heute sein Geheimnis.