Nach Abzug der US-Armee erschüttern vier Autobomben und zehn Sprengsätze Bagdad. Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten eskaliert.

Bagdad. "Kriegen wir denn nicht endlich mal Ruhe, so wie alle anderen?", fragte eine junge Frau im Bagdader Stadtteil Karrada verzweifelt, als gestern vor einem Kindergarten eine von 14 Bomben hochging. In der ganzen Stadt explodierten fast zeitgleich vier Autobomben und zehn Sprengsätze am Straßenrand, als die Verkehrswege dicht bevölkert waren und die Menschen zur Arbeit gingen. Sunnitische, schiitische und gemischte Viertel waren gleichermaßen betroffen. Fast 70 Menschen wurden getötet, fast 200 verletzt. "Früher haben sie uns gesagt, dass der Terror gegen die Amerikaner gerichtet sei", sagt die 23-Jährige verzweifelt. "Jetzt sind die weg und das Morden geht trotzdem weiter!"

Mehr als 120 000 Iraker wurden seit dem Sturz des Diktators Saddam Hussein im April 2003 getötet. Die Angst wächst unter den sechs Millionen Einwohnern der irakischen Hauptstadt vor einem erneuten Aufflammen des Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten, der das Land vor fünf Jahren an den Rand eines Bürgerkriegs brachte.

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Dramatischer hätte der Abgang der US-Truppen nach fast neun Jahren nicht sein können. Nur wenige Stunden nachdem der letzte GI abgezogen war, brach in Bagdad die Regierungskoalition zusammen. Zuerst verließen die Abgeordneten des Iraqia-Blocks das Parlament, dann ihre Minister die Regierung.

Danach wurde ein Haftbefehl gegen Vizepräsident Tarek al-Hashemi erlassen und schließlich Vizepremier Saleh al-Mutlak seines Amtes enthoben. Die Betreffenden sind allesamt Sunniten, der Verantwortliche für die Entlassungen, Premier Nuri al-Maliki, ist Schiit. Der vermeintlich gelöste Konflikt zwischen den Religionsgruppen, der in den schlimmen Terrorjahren 2006 und 2007 so viel Blut gekostet hat, kocht wieder hoch. Jetzt wird deutlich, dass die Vermittlertätigkeit der Amerikaner in den vergangenen beiden Jahren wichtiger war als oft gedacht.

Der Terror im Irak ist immer politisch motiviert gewesen. Sobald ein politisches Vakuum entsteht, kommt es vermehrt zu Anschlägen. So war es auch 2010, als acht Monate lang über eine Regierungskoalition verhandelt wurde: Das Machtpoker hatte eine Zunahme der Bombenanschläge zur Folge. "Die Politik provoziert den Terror", sagt Yonadam Kanna, einer der fünf christlichen Abgeordneten im irakischen Parlament. Er behauptet gar, dass die Anschläge von politischen Parteien oder Gruppierungen in Auftrag gegeben und von den in der Region rivalisierenden Mächten Iran und Saudi-Arabien finanziert werden - je nachdem, welche Zielrichtung sie verfolgen. Auch die Terrororganisation al-Qaida sei mittlerweile zum "Auftragnehmer" geworden, dessen Know-how gefragt sei. Gestern wurden Vermutungen laut, al-Qaida stecke hinter der Anschlagsserie - nur sie habe eine solche Koordination bewerkstelligen können.

Kritik richtet sich vor allem gegen Premier Maliki, der noch vor einer Woche in Washington erklärte, der Irak könne selbst für seine Sicherheit sorgen. Außerdem werden Stimmen lauter, er verhalte sich wie ein Diktator. Ijad Allawi, Premierminister der ersten Übergangsregierung und größter politischer Rivale Malikis, nannte die Vorwürfe gegen Vizepräsident Hashemi "fabriziert". Es erinnere ihn stark an Saddam, der seine politischen Gegner als Terroristen und Verschwörer beschuldigte, um sie aus dem Weg zu räumen. Maliki wirft Hashemi vor, er habe den Terror unterstützt und finanziert und sei an dem Anschlag im Regierungsviertel Ende November beteiligt gewesen, bei dem eine Bombe in unmittelbarer Nähe des Parlaments explodierte und auch den Sitz des Premiers treffen sollte.

Dafür wurden Geständnisse dreier Leibwächter Hashemis zuerst in der Tageszeitung "al-Dustur" abgedruckt und danach im Staatsfernsehen veröffentlicht. Allawi und sein Iraqia-Block, dem auch Hashemi und Mutlak angehören, fühlen sich einer Schmutzkampagne ausgesetzt. Zwar konnten sie bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr die meisten Stimmen erringen, doch reichte es nicht zu einer regierungsfähigen Mehrheit. Maliki blieb Premierminister. Während die Amerikaner sich bei den zähen Koalitionsverhandlungen für eine Einheitsregierung unter Einbindung aller politischen Kräfte starkgemacht haben, wollte Maliki schon damals eine Mehrheitsregierung mit der radikalen Schiitenpartei Moktada al-Sadrs und den Kurden ohne Allawi und seinen Iraqia-Block eingehen. Das scheint er jetzt ohne Präsenz der Amerikaner gnadenlos durchsetzen zu wollen.

Nicht umsonst haben gerade die Sunniten sich in letzter Zeit für einen Verbleib der Amerikaner im Irak ausgesprochen, obwohl der irakische Widerstand gegen die Besatzungsmacht anfangs sunnitisch geprägt war.

Um der Verhaftung in Bagdad zu entgehen, hat sich al-Hashemi in den kurdischen Norden geflüchtet - nach Suleimanija, der Heimatstadt des irakischen Präsidenten Dschalal Talabani, dessen Stellvertreter er ist. Exil im eigenen Land, denn Bagdads Arm reicht nicht in die autonome kurdische Provinz. Die Kurden haben dort ihre eigene Polizei und Armee, ein unabhängiges Regionalparlament und eine eigene Gerichtsbarkeit. Das Begehren Malikis, Hashemi nach Bagdad zu überstellen, wird strikt abgelehnt. Hashemi seinerseits erklärte sich bereit, vor einem Gericht der Kurdenprovinz zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen. Es sieht aus, als ob Malikis langjähriger Koalitionspartner, die Kurdenallianz, jetzt auch von ihm abrückt.