Hamburger Japanologen erklären das Phänomen Japan. Und fragen sich, wo eigentlich der Kaiser in der Krise ist. Emotionen fehlen bislang.

Hamburg. Einsame Menschen sitzen vor ihren zerstörten Häusern und dennoch lächeln manche von ihnen in die Kameras der Weltmedien. Für Europäer ist dieses Verhalten befremdlich. "In der japanischen Kultur gibt es eine Grundtendenz, dass man im Umgang mit anderen Menschen, zumal fremden, die eigenen Emotionen nicht so deutlich ausdrückt, wie wir dies tun", sagt Professor Dr. Jörg B. Quenzer, Japanologe an der Universität Hamburg, im Gespräch mit dem Abendblatt.

"Das ist zum einen Selbstschutz, zum anderen aber ein ziemlich wichtiges soziales Element: Dass man andere nicht dadurch unter Druck setzen möchte, indem sie an den eigenen Emotionen teilhaben müssen." Der Wissenschaftler erinnert sich an einen Japan-Aufenthalt 1989, als gerade der damalige Kaiser Hirohito gestorben war. "Bei den Menschen, die sich in kilometerlangen Schlangen anstellten, um sich in Kondolenzlisten einzutragen, sah ich bei vielen dieses Lächeln. Als jungem Studenten kam mir dies seltsam vor."

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Stichwort Tenno: Wo ist Kaiser Akihito eigentlich in dieser schweren Krise seines Volkes? "Das ist in der Tat eine interessante Frage", sagt Quenzer. "Der Tenno und die Kaiserin haben am Sonnabend ein kurzes Statement abgegeben und den Opfern ihr Mitleid ausgedrückt. Seitdem ist er nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten."

Nun wäre es durchaus denkbar, "dass die heutige japanische Gesellschaft und die sie tragenden Hauptakteure das Kaiserhaus nicht mehr als so wichtig ansehen, wie dies noch vor 40 Jahren der Fall war". Doch diese sei reine Spekulation, betont der Japanologe. "Ich habe von Freunden in Japan gehört, dass es vor 30, 40 Jahren noch ungeheuer wichtig war, wenn sich der Kaiser zu irgendetwas gemeldet hat. Dieses Bedürfnis scheint es vielleicht bei den jüngeren Generationen nicht mehr zu geben, und die Politik fordert es vielleicht vom Kaiserhaus nicht mehr."

"An diesem Rätsel knabbere ich auch schon seit einigen Tagen", sagt Quenzers Kollegin Professor Dr. Gabriele Vogt, Japanologin an der Uni Hamburg. "Ich habe die letzten sieben Jahre in Tokio gelebt, und ich erinnere mich, dass bei jedem größeren oder kleineren Erdbeben das Kaiserpaar nach zwei, drei Tagen in die Notunterkünfte kam, mit den Menschen sprachen, sie in die Arme nahmen und sie einfach weinen ließen. Der Kaiser hat damit Präsenz gezeigt und hat damit demonstriert: Ich als der japanische Tenno bin ebenso betroffen wie mein Volk."

Sie frage sich auch, warum der Kaiser diesmal nicht in Erscheinung tritt, sagt Vogt. Es habe allerdings in den letzten Monaten Berichte über eine nachlassende Gesundheit des Tenno gegeben, über Herz- und Kreislaufprobleme. Doch man könne allenfalls darüber spekulieren, ob es ihm einfach nicht gut genug geht, sagt die Japanologin. Aber dann müsse eigentlich der Kronprinz einspringen. "Ich frage mich, ob die kaiserliche Familie überhaupt noch in Tokio ist. Aber darüber werden wir nie etwas in Japans Medien lesen."

Ist dies nun eine Katastrophe wie viele andere in der japanischen Geschichte auch oder doch ein einschneidendes Ereignis? "Bis zum Freitag dachte ich auch noch, es sei eine Katastrophe wie andere", sagt Gabriele Vogt. "Die Japaner leben seit Jahrhunderten mit schweren Erdbeben, aber dies ist ein Ereignis, das die Nation nachhaltig verändern wird. Ich glaube, es kommt zu einer Entwicklung in der Gesellschaft, bei der man ganz fundamental darüber nachdenkt, wie man den Lebensstil, den man in Tokio pflegt, zukunftsfähig machen kann. In Tokio kann man alles immer überall haben - und plötzlich gibt es im Supermarkt kein einziges Reisbällchen mehr."

Quenzer bestätigt, dass die zögerliche Informationspolitik der Regierung von Ministerpräsident Naoto Kann und der Kraftwerks-Betreiberfirma Tepco Unmut im Volk hervorruft. Zum Teil sei dies aber auch kulturell und durch bestimmte hierarchische Strukturen bedingt, auf die Rücksicht genommen werde. Vogt gibt zudem zu bedenken, dass es wenig Sinn habe, die fast 40 Millionen Menschen im Metropolraum Tokio in Panik zu versetzen: Über die wenigen Ausfallstraßen könnten sie ohnehin nicht evakuiert werden. Naoto tritt derweil nur im Blaumann auf, um Tatkraft und Volksnähe zu demonstrieren.

Wird der sprichwörtliche Gemeinschaftssinn der Japaner, die noch die letzte Flasche Trinkwasser miteinander teilen, über die ganze Katastrophe hinweg tragen? Bei der Antwort darauf sei Vorsicht geboten, sagt Wissenschaftler Quenzer, "denn wir wissen ja noch nicht, wie diese Katastrophe ausgeht". Doch dass es bis jetzt in bewundernswerter Weise diszipliniert und ohne Panik abgelaufen sei, "das hat schon mit einer von Kind an geprägten Rücksichtnahme im sozialen Miteinander zu tun. Das wäre sicherlich in anderen Kulturen - und da brauchen wir gar nicht aus Europa hinauszugucken - nicht so geordnet abgelaufen."

"Schon im Kindergartenalter bekommt man in Japan mit, dass man weniger ein Individuum ist als ein Teil eines größeren Ganzen", erklärt auch Gabriele Vogt. "Darum reisen die Bewohner Tokio im Gegensatz zu den Ausländern jetzt auch nicht aus der Stadt. "In Japan denken die Menschen: Wenn ich aus Tokio abreise, ist das vielleicht für mich als Individuum und für meine Gesundheit gut, ich lebe vielleicht länger. Es ist aber nicht gut für diese Gesellschaft, denn ich hinterlasse eine Lücke im Räderwerk. Ich lasse meine Mitmenschen, meine Firma und meine auf Hilfe angewiesene 90-jährige Nachbarin im Stich. Wenn die Japaner in einer Extremsituation wie dieser vor diese Wahl gestellt werden, entscheiden sich die allermeisten dafür, ihre Verantwortung als Teil der Gesellschaft wahrzunehmen." Japan sei ein sehr, sehr hoch entwickeltes Land, betont die Hamburger Japanologin. "Und es ist ein sehr effizientes Land, noch wesentlich effizienter als Deutschland. Kein anderes Land der Erde ist so gut auf Katastrophen vorbereitet. Und in keinem anderen Land trägt die Bevölkerung die pragmatischen Notmaßnahmen so mit und bewältigt dabei zugleich den Alltag."