Radioaktive Bedrohung löst Hamsterkäufe aus. Viele Bewohner der Metropole versuchen die Stadt zu verlassen. In Tokio breitet sich Angst aus.

Tokio. Vier Tage lang zeigten Fernsehbilder Japaner, die äußerlich ruhig und gefasst auf die apokalyptisch anmutenden Katastrophen in ihrem Land reagierten. Doch nun ist auch den vielen Millionen Menschen in Tokio allmählich die Angst anzumerken. Denn während sie das Erdbeben vom Freitag vergleichsweise glimpflich überstanden haben und vom Tsunami verschont blieben, fürchten sie nun, dass Radioaktivität aus dem 250 Kilometer nördlich gelegenen, zerstörten Atomkraftwerk in Fukushima die Hauptstadt, in deren Großraum 35 Millionen Menschen leben, erreichen könnte.

Dosennahrung und Batterien, Brot und Mineralwasser sind in Japan bereits aus vielen Supermärkten verschwunden, vor den Tankstellen bilden sich lange Schlangen. Inzwischen sieht sich auch Tokio mit dem Problem konfrontiert: Panikkäufen. Die Tokioter wappnen sich für den Ernstfall, kaufen Wasser, haltbare Lebensmittel und Atemschutzmasken. In den Kaufhäusern sind die Überlebensausrüstungen bereits ausverkauft. "Ich decke mich mit Getränken, Reis, Snacks und Fleisch ein", sagt Mariko Kawase. Die Nachrichten verfolge sie aufmerksam, sagt die 34-jährige Hausfrau, während sie zwischen fast leeren Regalen in einem Supermarkt Waren in ihren Korb füllt. Die Behörden meldeten gestern Morgen, es seien geringe Mengen an Radioaktivität in Tokio gemessen worden. Binnen vier Stunden gehen die Werte von 0,809 Mikrosievert auf 0,075 Mikrosievert zurück. Eine Gefahr für die Gesundheit bestehe nicht, versichern die Behörden. Bei einer normalen Röntgenuntersuchung werden 20 Mikrosievert abgegeben.

Doch trotz der Beschwichtigung wächst seit der Nachricht die Anspannung in der Stadt, zumal ein erneuter Wetterumschwung erwartet wird. Und damit eine höhere Radioaktivität. Viele Menschen in Tokio wollen aber nicht abwarten, ob das Schlimmste eintritt. So wie es bereits viele Ausländer getan haben, versuchen sie, aus der Stadt zu gelangen, in Richtung Süden zu fahren, möglichst weit weg. Am Bahnhof Shinagawa, von wo aus die Züge nach Süden starten, warten Menschen dicht gedrängt auf den Bahnsteigen. An Kinder und Koffer geklammert, hoffen sie, der Megacity entfliehen zu können.

Kumiko Yoshida dagegen will bleiben - obwohl die Besitzerin eines Schönheitssalons derzeit kaum Kundinnen hat. Die 54-Jährige denkt nun auch an die Opfer des massiven Erdbebens vom vergangenen Freitag und des anschließenden Tsunamis im Nordosten Japans. "Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke, wie es den Opfern des Erdbebens geht", sagt sie. "Ich will ihnen helfen." Beim Thema Radioaktivität fühlt sich Yoshida an die US-Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. "Japan hat Atombomben erlebt, daher sind wir sensibel beim Thema Strahlung", sagt sie. "Ich mache mir Sorgen um Japans Zukunft. Die Lebensmittel sind jetzt bestimmt verstrahlt."

"Es herrscht Hysterie", sagt ein Sprecher des Fertignudelherstellers Nissin Foods, Tomonao Matsuo. "Die Menschen fühlen sich einfach sicherer, wenn sie Fertignudeln im Haus haben." Das Unternehmen bemüht sich derzeit, trotz der Erdbebenschäden in seinen Fabriken die Produktion zu erhöhen. Es spendete auch bereits eine Million Portionen für die Opfer der Katastrophe.

Einzelhändler sagen, eine solche Panik hätten sie seit Jahren nicht erlebt, wahrscheinlich seit der Ölkrise in den 70er-Jahren. "Wir arbeiten rund um die Uhr, um die Lieferungen an die Läden zu verbessern", sagt Anthony Rose, ein Vizepräsident der Supermarktkette Wal-Markt Asia, der auch die japanischen Seiyu-Märkte gehören. "In den kommenden 48 Stunden sollte es eine positive Entwicklung geben." Ein Sprecher der Kette Daiei, Shoko Amesara, sagt, die Menschen wollten sich plötzlich auf den Notfall vorbereiten. Daher komme es zu Engpässen bei allen Lebensmitteln mit langer Haltbarkeit.

Hinzu kommen Stromengpässe. Schließlich wurden nach dem Erdbeben elf Atomkraftwerke in Nordjapan abgeschaltet, die bisher den größten Teil der Stromversorgung Tokios übernahmen. Die Regierung forderte die Menschen bereits auf, so oft wie möglich das Licht auszuschalten. In einigen Städten wurden bereits zeitweise Stromabschaltungen angeordnet.

Und die Pendlerzüge nach Tokio sind noch voller als sonst, weil die Betreiber weniger Züge einsetzen, um Strom zu sparen. "Die wenigen Züge, die fahren, quellen über. Aber die Menschen stellen sich brav dafür an und rücken Reihe für Reihe vor", berichtete der Schweizer Denis Hofmann, der seit Jahren in Tokio lebt. Die größte Sorge vieler Pendler sei es, zur Arbeit zu kommen. "Viele sind auf ihren Job angewiesen, die schmeißen nicht einfach das Handtuch." Das Leben in der Metropole fühle sich an "wie Alltag, mit Ausnahmezuständen gefüllt". Die bei Touristen beliebten Plätze seien allerdings gespenstisch leer, sagte Hofmann - wie 1995, nach dem Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn.