Reaktoren in Fukushima außer Kontrolle. Radioaktivität freigesetzt. Tokio in Sorge vor Atomwolke. Sieben deutsche Kernkraftwerke werden abgeschaltet

Tokio/Berlin. Feuer, Detonationen, dazu eine dramatisch steigende Strahlenbelastung - die Lage rund um den japanischen Katastrophen-Reaktor Fukushima 1 ist außer Kontrolle geraten. Nachdem eine Explosion am frühen Dienstagmorgen die Schutzhülle in Reaktorblock 2 beschädigt hat, droht nach Angaben der Regierung in Tokio nun in drei der vier betroffenen Reaktorblöcke eine Kernschmelze. Japan, das überdies mit den noch unabsehbaren Folgen des Erdbebens mit voraussichtlich mehr als 10 000 Toten kämpft, steht vor dem atomaren Super-GAU.

Der AKW-Betreiber Tepco sprach gestern von einer "sehr schlimmen" Lage, die französische Atomsicherheitsbehörde stufte die Fukushima-Katastrophe auf die zweithöchste Stufe 6 der bis 7 reichenden internationalen Störfall-Skala ein. Stufe 7 wurde bisher nur vom Unglück in Tschernobyl erreicht.

In der Außenwand des Reaktorblocks 4 von Fukushima klaffen nach einem Feuer inzwischen zwei acht Quadratmeter große Löcher. Die dort lagernden überhitzten Brennstäbe sollen mit Wasser aus Hubschraubern gekühlt werden. Block 4 ist der einzige unter den havarierten Meilern, der sich nicht aus unmittelbarer Nähe mit Meerwasser kühlen lässt. Am späten Abend brach in ihm erneut Feuer aus.

Schon jetzt erreicht die radioaktive Strahlung im Umkreis des Unglückskraftwerks allerdings bedrohliche Werte. "Wir reden über eine Strahlendosis, die die menschliche Gesundheit gefährden kann", sagte Regierungssprecher Yukio Edano. In einzelnen Bereichen des Kernkraftwerks seien 400 Millisievert gemessen worden - dies übersteigt den Grenzwert der Strahlenbelastung für ein Jahr um das 400-Fache. Auch in der 35-Millionen-Metropole Tokio wurden erhöhte Strahlenwerte gemessen. Die Belastung sei um das 22-Fache höher als üblich, berichtete der Fernsehsender NHK. Medien gaben Tipps für den Schutz vor radioaktiver Verstrahlung, Panik machte sich breit, immer mehr Menschen waren auf dem Weg in den von den Unglücksmeilern weiter entfernten Süden. Viele deutsche Medien haben ihre Korrespondenten aus der von radioaktiver Strahlung bedrohten Hauptstadt Tokio abgezogen. So arbeiten die ARD-Hörfunkkorrespondenten nun im etwa 500 Kilometer südlich gelegenen Osaka.

Nach Einschätzung des Vorsitzenden der Strahlenschutzkommission des Bundes, Rolf Michel, wäre auch Deutschland für einen atomaren Ernstfall mit hohen Strahlendosen nicht hinreichend gerüstet. Im Notfall gäbe es zwar genügend Personal, das auf Anweisung handeln könnte, und auch ausreichend Medikamente. Es fehlten jedoch Ärzte, die in der radiologischen Notfallmedizin ausgebildet seien. Eine Klinik für Strahlenkranke gebe es nicht.

Die EU-Staaten zogen erste Konsequenzen aus dem Atomunglück in Japan: Erstmals sollen europaweit alle Atomkraftwerke einem einheitlichen Sicherheitstest unterzogen werden. EU-Energiekommissar Günther Oettinger sprach mit Blick auf die Ereignisse in Japan von einer "Apokalypse".

Auch Deutschland zieht die nukleare Notbremse: Die vor 1980 gebauten Kraftwerke Neckarwestheim 1 und Philippsburg 1 (Baden-Württemberg), Biblis A und B (Hessen), Isar 1 (Bayern), Unterweser (Niedersachsen) und das ohnehin stillstehende AKW Brunsbüttel in Schleswig-Holstein werden zumindest vorübergehend stillgelegt, vereinbarten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der betroffenen Bundesländer gestern in Berlin. Die 1983 fertiggestellte und nach Pannen abgeschaltete Anlage Krümmel in Schleswig-Holstein bleibt vorerst vom Netz getrennt, der 35 Jahre alte Atommeiler Neckarwestheim 1 wird nach Angaben von Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU) sogar auf Dauer abgeschaltet. Auch Isar 1 geht voraussichtlich nicht wieder ans Netz.

SPD, Grüne, Linke und Anti-Atom-Organisationen sowie Greenpeace sprechen von einem Täuschungsmanöver und verlangen das endgültige Aus für alle Kernkraftwerke in Deutschland. Dagegen warnte der Chef des Energieversorgers E.on, Johannes Teyssen, vor negativen Folgen der AKW-Abschaltungen für die Stromnetze. "Zumindest können wir in Norddeutschland zu einem frühen Zeitpunkt schon gewisse Engpässe voraussehen", sagte der Manager gestern in Brüssel. "Was die Infrastruktur, das Netz, betrifft, so gehe ich davon aus, dass da erhebliche Stresselemente zu verzeichnen sein werden."

Die Börsen reagierten weltweit mit Kursstürzen auf die Schreckensmeldungen aus Japan. In Tokio kam es zu Panikverkäufen - Japans Börse erlebte den höchsten Kursverlust seit dem Höhepunkt der Finanzkrise. Der Leitindex fiel zeitweise um mehr als 14 Prozent. In Deutschland stürzten die Aktien mit einem Minus von mehr als fünf Prozent zeitweise auf den tiefsten Stand seit Oktober 2010.