Tausende Tunesier flohen in den vergangenen Tagen über das Meer nach Lampedusa. Das Flüchtlingslager der Insel ist schon jetzt überfüllt.

Walid schaffte es mit seinem Rollstuhl in Begleitung seiner Brüder Marwan und Nidal auf einem Kutter nach Lampedusa. "Sie haben für uns gesammelt und uns gesagt, fahrt nach Italien, Frankreich oder Deutschland", sagt Nidal in einer Mischung aus Italienisch und Französisch. Die drei, alle um die 20, hätten sich an der Revolte in Tunis beteiligt, dabei sei Walid festgenommen worden. "Nach unserer Freilassung haben wir uns sofort auf den Weg gemacht."

Bis zur Wiedereröffnung des Aufnahmelagers übernachteten die Brüder am Hafen von Lampedusa. Auf dem Fußballfeld neben dem Schiffsfriedhof kampierten sie gemeinsam mit 1000 anderen Ankömmlingen.

Aus Angst vor einer neuen Welle von Zuwanderern zögerte das italienische Innenministerium zunächst mit der Öffnung des ehemaligen Abschiebehaftlagers. Erst als sich immer mehr Nordafrikaner auf den Straßen und Plätzen der kleinen Mittelmeerinsel drängten - 5000 Flüchtlinge erreichten Lampedusa seit Mittwoch -, wurden die 850 Betten bereitgestellt. "In Achtbettzimmern bringen wir erst einmal 30 Personen unter, wir tun, was wir können", sagt der Leiter des Aufnahmezentrums, Cono Galipò, freundlich. Anders als früher können sich Flüchtlinge frei auf der Insel bewegen, bevor sie per Fähre oder Luftbrücke auf das Festland gebracht werden.

Bis zur Schließung des Abschiebehaftlagers im Frühjahr 2009 - Italien und Libyen hatten sich auf gemeinsame Grenzkontrollen geeinigt - fürchteten die Anwohner, der Anblick der Afrikaner könne Touristen vertreiben, die hier in idyllischen Buchten gern im türkisblauen Wasser schwimmen.

Daher wurde das jetzige Auffanglager auch in einiger Entfernung zum Flughafen eingerichtet. Bis dahin waren die Container eines anderen behelfsmäßigen Auffanglagers das Erste, was die Touristen hinter dem Stacheldrahtzaun an der Rollbahn sahen, wenn sie aus dem Flugzeug stiegen.

Bis vor wenigen Tagen erreichten nur noch vereinzelte Boatpeople die italienische Ferieninsel vor der tunesischen Küste. Doch das Ende des Regimes von Ex-Diktator Ben Ali in Tunis hat mit dem gesamten Staatsapparat auch die Grenzkontrollen aus den Angeln gehoben.

Mit der Massenflucht kommt es auch erneut zu Todesfällen bei der häufig auf schrottreifen Booten angetretenen Reise. Fünf Nordafrikaner kamen nach einem Zusammenstoß mit einem Marineschiff ums Leben. Weitere 17 gelten als vermisst. Der Bootsfriedhof auf Lampedusa erinnert mit seinen verschrotteten Kuttern am Rande des Hafens an Flüchtlinge, die die Überfahrten auf überfüllten Booten in den vergangenen Jahren das Leben kostete.

Zwischen umgerechnet 1500 und 2700 Euro kostet die Überfahrt. Im Unterschied zu früheren Flüchtlingswellen machen sich diesmal vor allem junge und vielfach gut ausgebildete Männer aus den Städten auf den Weg.

Trotz Überfüllung und der Aussicht auf weitere Flüchtlinge herrscht derweil noch Ruhe auf Lampedusa. Die stellvertretende Bürgermeisterin Angela Maraventano schimpft aber in gewohnt scharfem Ton. "Warum flüchten sie aus ihrem Land, wenn sie sagen, sie haben ihren Präsidenten mit einer Revolution vertrieben?", sagt die Besitzerin eines Restaurants mit Traumblick auf den Hafen.

Mit der Forderung nach Kanonenbeschuss von Flüchtlingsbooten brachte es die drahtige Blondine zu einem Senatorenposten in Rom. Noch vor wenigen Tagen versicherte sie, das Flüchtlingslager auf Lampedusa werde "nur über meine Leiche" wieder eröffnet.

Wer das Glück hat, in dem Auffanglager einen Platz zu ergattern, erhält Zigaretten, eine Telefonkarte und Turnschuhe. Viele waschen sich zum ersten Mal seit Tagen notdürftig in dem überfüllten Gebäude, dessen Gitterstäbe noch daran erinnern, dass es früher als Gefängnis diente.

Diesmal stehen die Ankömmlinge geduldig Schlange, um etwas zu essen und einen Schlafplatz auf einer Matratze zu erhalten. Viele von ihnen wollen weiter nach Frankreich zu Freunden und Verwandten. Kaum einer kommt mit gültigen Ausweispapieren an. Hilfsorganisationen wie das Uno-Flüchtlingshochkommissariat und die Internationale Organisation für Migration (IOM) informieren sie mithilfe von Übersetzern über die Möglichkeiten, Asyl zu beantragen.

"Nicht alle Tunesier sind Flüchtlinge", meint Christopher Hein vom italienischen Flüchtlingsrat (CIR). Die Mehrheit nutze die Gelegenheit, leichter als üblich nach Europa zu kommen. Italien ist für die meisten nur eine Durchgangsstation. Auch Deutschland müsse mit einem neuen Zustrom rechnen. Bis sie ausgeflogen werden, schlafen sie weiterhin im Freien und im Auffanglager, während sich Müll aller Art am Straßenrand sammelt.

Mit verängstigten Tunesiern, die vor unsicheren Verhältnissen in ihrer Heimat flüchten, politisch Verfolgten und Wirtschaftsmigranten machen sich auch ehemalige Unterstützer des gestürzten Regimes auf den Weg nach Europa, warnt CIR-Direktor Hein. Mit dem Regime in Tunis brach auch das von der Familie der Gattin des gestürzten Diktators betriebene Schmugglernetz zwischen Tunesien und Libyen zusammen. Bislang garantierte es den Unterhalt vieler Bewohner der angrenzenden Region.

Als unmittelbarer Nachbar der Krisenregion in Nordafrika fühlen sich italienische Politiker auf einem Pulverfass. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Albanien erreichten vor 20 Jahren innerhalb kürzester Zeit Tausende Flüchtlinge die italienische Küste. Um die Notlage einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, wurden viele von ihnen im Stadion von Bari untergebracht. Die jetzt auf dem Fußballplatz in der Nähe des Hafens von Lampedusa campierenden Tunesier wecken die Erinnerung an den damals wegen seines Ausmaßes als bedrohlich empfundenen Flüchtlingsstrom. Dabei nutzen sie tagsüber das milde Frühlingswetter für Fußballspiele, bei denen das Publikum begeistert mitgeht.

Aus Angst vor Übergriffen durch die ungebetenen Gäste bewacht die Leiterin des Zentrums für Meeresschildkröten auf Lampedusa ihre Schützlinge bis auf Weiteres rund um die Uhr. "Als ich gehört habe, dass die Zuwanderer in der Nähe des Stadtzentrums untergebracht werden, habe ich mich hier eingeschlossen", sagt Daniela Freggi.

Außerhalb der Touristensaison leben 4500 Menschen auf Lampedusa, weniger als die Zahl der Nordafrikaner, die in den letzten Tagen hier strandeten und ihr Sorge bereiten.

Während Tunesier ohne einen Euro in der Tasche in der Sonne an den Tischen vor den Bars an der belebten Hauptstraße Via Roma sitzen und in die Schaufenster der Geschäfte für Bademoden gucken, drohen die Fischer der Insel mit spektakulären Protestaktionen. Die meiste Zeit des Jahres leben die Bewohner von Lampedusa von Fischfang und -verarbeitung. Der Treibstoff für ihre Boote kostet hier aber doppelt so viel wie anderswo in Italien. Verlassene Fischfabriken mit abblätternden Firmennamen erinnern an den einst blühenden Wirtschaftszweig. Vor einigen Jahren machten die Fischer auf ihre Misere aufmerksam, indem sie ihren Fang auf der Landebahn des Flughafens abluden. Unter den derzeitigen Umständen wäre eine solche Protestaktion eine Katastrophe.

Zur besseren Kontrolle der Bootsflüchtlinge entsandte das Innenministerium bereits Dutzende Polizisten und Soldaten als Verstärkung für die etwa 30 Ordnungshüter der Insel. Rom will den Zustrom vor allem mit verstärkten Grenzkontrollen möglichst in den Herkunftsländern, vor deren Küste und vor Lampedusa eindämmen.

Ob diese Strategie greift, wenn tatsächlich noch mehr Regierungen in der Region gestürzt werden, vermag sich in Italien noch niemand auszumalen.