Der polnische Präsident Lech Kaczynski ist bei einem Flugzeugabsturz zusammen mit hochrangigen Delegierten ums Leben gekommen. Am Sonntag gedenkt Polen der Opfer des Unglücks.

Warschau/Moskau/Smolensk. Mit zwei Schweigeminuten gedenkt Polen am Sonntagmittag der Opfer der Flugzeugkatastrophe, bei der am Sonnabend Präsident Lech Kaczynski zusammen mit zahlreichen Vertretern der Führungselite des Landes ums Leben kam. „Die moderne Welt hat noch nie eine solche Tragödie erlebt“, sagte Regierungschef Donald Tusk. In ganz Polen wird für eine Woche lang Staatstrauer angeordnet.

Die Präsidentenmaschine war beim Anflug auf die westrussische Stadt Smolensk abgestürzt. Die polnische Delegation wollte in Russland des Massakers von Katyn an rund 22.000 Polen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gedenken. Keiner der 96 Insassen überlebte den Absturz in dichtem Nebel.

Wenige Stunden nach dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine sind nun zwei Flugschreiber gefunden worden. Die Geräte sollen nach Moskau gebracht und dort von russischen und polnischen Spezialisten gemeinsam ausgewertet werden.

1. WIE DER ABSTURZ SICH EREIGNET HABEN SOLL

2. PORTRÄT LECH KACZYNSKI

3. KANZLERIN ANGELA MERKEL ZUM ABSTURZ

4. WELTWEITE TRAUER UM KACZYNSKI

Alle Opfer seien mittlerweile geborgen worden, sagte Zivilschutzminister Sergej Schoigu. Russlands Ministerpräsident Wladimir Putin ordnete an, die Leichen der Absturzopfer zur Identifikation nach Moskau zu bringen. Dies gelte auch für die Leiche Kaczynskis, sagte ein Sprecher Putins. Präsident Dmitri Medwedew hatte den früheren Kremlchef zum Chef der Untersuchungskommission ernannt.

In Warschau und anderen Hauptstädten herrschte tiefe Betroffenheit. Regierungschef Donald Tusk rief das Kabinett zu einer Sondersitzung zusammen. Tusk stand in direkter Verbindung mit Parlamentspräsident Bronislaw Komorowski, der nach der polnischen Verfassung die Amtsgeschäfte des Staatschefs übernommen hat. Komorowski ordnete eine Woche Staatstrauer an. Außer dem Präsidenten-Ehepaar kamen bei dem Absturz in Smolensk Vize-Parlamentschef Jerzy Szmajdzinski, Vize-Außenminister Andrzej Kremer, der Chef des Generalstabs, Franciszek Gagor, mehrere Parlamentarier sowie die engsten Mitarbeiter Kaczynskis ums Leben. Gestorben sei die „Elite der Nation“, sagte Ex-Präsident Lech Walesa.

Präsidenten-Bruder Jaroslaw nach Smolensk gereist

Der Zwillingsbruder Kaczynskis, Jaroslaw, und Donald Tusk sind am Abend in Weißrussland gelandet. Sie trafen in Witebsk nahe der russischen Grenze ein, um von dort aus zur Absturzstelle bei Smolensk zu fahren, wo die Maschine abgestürzt war. An Bord der beiden in Witebsk gelandeten Charterflugzeuge waren auch Angehörige der anderen Opfer. Sie wurden in Bussen über die Grenze gefahren.

Seit seiner Wahlniederlage bei den Parlamentswahlen 2007 leitet Jaroslaw Kaczynski als Oppositionsführer die PiS. Beide Brüder standen in einem sehr engen persönlichen Verhältnis und sprachen sich bei allen wichtigen Fragen ab.

„Jaroslaw Kaczynski ist niedergeschmettert nach dieser Tragödie, hält sich aber tapfer“, sagte der Sprecher der Parlamentsfraktion der PiS, Mariusz Blaszczak.

Die Todesnachricht sei für Jaroslaw Kaczynski umso tragischer, da seine 84-jährige Mutter Jadwiga seit mehr als einem Monat im Krankenhaus sei und die Ärzte ihren Gesundheitszustand als „sehr ernst“ beschrieben, fügte der PiS-Sprecher hinzu.

Die Zwillingsbrüder Kaczynski standen vom Juli 2006 bis November 2007 gemeinsam an der Spitze Polens, Lech als Präsident und Jaroslaw als Regierungschef. Im Jahr 2001 hatten sie gemeinsam die rechtskonservative PiS-Partei gegründet. Schon als Kinder galten die Bruder als unzertrennlich und erlangten als Zwölfjährige in ihren Rollen im Kinderfilm „Wie zwei kleine Racker den Mond stehlen wollten“ Berühmtheit.

Kaczynskis Pilot ignorierte Befehle der Fluglotsen

Unterdessen verdichten sich die Hinweise auf menschliches Versagen als Unglücksursache. Der Pilot der polnischen Regierungsmaschine habe beim Anflug auf den russischen Flughafen Smolensk mehrere Befehle der Fluglotsen ignoriert, die Landung abzubrechen und einen anderen Flughafen anzusteuern, sagte der Vize-Chef der russischen Luftwaffe, Alexander Aljoschin.

„Bei einer Entfernung von 2,5 Kilometern stellte der Leiter der Luftraumüberwachung fest, dass die Crew die Geschwindigkeit im Senkflug beschleunigte“, sagte Aljoschin. Der Tower habe daraufhin den Befehl gegeben, das Flugzeug in eine horizontale Position zu bringen. Als die Crew diesem Befehl nicht gefolgt sei, hätten die Fluglotsen dem Piloten mehrmals angeordnet, einen anderen Flughafen anzusteuern. „Die Crew setzte den Landeanflug trotzdem fort. Unglücklicherweise endete dies in einer Tragödie“, sagte Aljoschin.

Zum Zeitpunkt des Absturzes um 10.50 Uhr Ortszeit (8.50 MESZ) herrschte nach Angaben des Zivilschutzministeriums dichter Nebel. Die aus Warschau kommende Maschine war im Landeanflug gewesen, als sie auf Baumwipfel prallte. Das Flugzeug war zuletzt im Dezember in der Werkstatt zur Generalüberholung, wie der Generaldirektor der russischen Flugzeugfirma Awiakor, Alexej Gussew, sagte. Die Maschine habe die auf den TU-154-Bau spezialisierte Werkstatt in tadellosem Zustand verlassen. Die Wartung sei in polnischen Händen gewesen, sagte Gussew.

Der Pilot der Präsidentenmaschine hatte offenbar vier Landeversuche unternommen. Der Flughafen in der Nähe der Stadt Smolensk sei technisch in einwandfreiem Zustand gewesen. Wegen des Nebels soll dem Piloten angeboten worden sein, in der weißrussischen Stadt Minsk oder in Moskau zu landen oder nach Warschau umzukehren, berichteten russische Medien. Aber die Besatzung habe dann eine unabhängige Entscheidung getroffen, in Smolensk zu landen. Demnach habe der Pilot eigenmächtig gehandelt. Das Flugzeug war in einen Wald gestürzt.

An der Unglücksstelle südlich der westrussischen Stadt Smolensk lagen zahlreiche Wrackteile des in den polnischen Farben Rot und Weiß gestrichenen Flugzeugs vom Typ TU-154 verstreut.

Russland verspricht Aufklärung

Der russische Regierungschef Wladimir Putin kündigte eine rasche Aufklärung des Unglücks an. „Wir müssen alles tun, um den Familien, um den Angehörigen der Opfer zu helfen.“ Das sagte Putin im russischen Staatsfernsehen nach einer Besichtigung des Absturzorts südlich der westrussischen Stadt Smolensk. Dort hielt er auch eine Gedenkminute für die Opfer ab.

Kaczynski (60) wollte mit einer Delegation an der Gedenkfeier für die Ermordung von tausenden polnischen Soldaten durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD vor 70 Jahren im russischen Katyn teilnehmen. Dort hatte es bereits am Mittwoch eine Gedenkfeier mit Putin und Tusk gegeben - der Putin-Kritiker Kaczynski, der seit Dezember 2005 Präsident war, war nicht eingeladen worden und wollte nun drei Tage später des Massakers gedenken.

Präsidentschaftswahlen in Polen bis spätestens Ende Juni

Nach dem Tod Kaczynskis hat das Land bis Ende Juni Zeit, um die Nachfolge an der Staatsspitze zu regeln. Als "Deadline" wurde der 20. Juni festgelegt. Der Präsident des polnischen Unterhauses, Bronislaw Komorowski, übernahm kommissarisch die Amtsgeschäfte des Präsidenten. Laut Artikel 128 der polnischen Verfassung aus dem Jahr 1997 muss er nun binnen zwei Wochen einen Termin für Neuwahlen festlegen. Diese wiederum müssen in den folgenden 60 Tagen abgehalten werden, der Tag der Ankündigung von Neuwahlen mit einbegriffen.

Der polnische Staatspräsident wird alle fünf Jahre direkt vom Volk gewählt. Ursprünglich war der nächste Urnengang für diesen Herbst geplant. Im politischen System Polens steht der Präsident an Spitze der Exekutive. Er ernennt die Regierung, kann Gesetze und internationale Verträge mit einem Veto blockieren und vertritt das Land auf internationalem Parkett.

Medwedew übermittelt Polen in Rede Beileid

Kremlchef Dmitri Medwedew wandte sich am späten Nachmittag mit einer bewegenden Fernsehansprache an das polnische Volk. Er verspreche die sorgfältige Aufklärung der Tragödie in Zusammenarbeit mit den Behörden in Warschau, sagte der sichtlich betroffene Präsident.

„Im Namen des russischen Volkes übermittle ich dem polnischen Volk tiefes und aufrichtiges Beileid und sage den Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer Unterstützung zu“, sagte Medwedew weiter. Alle Bürger Russlands seien erschüttert über die furchtbare Tragödie. Für kommenden Montag wurde in Russland Staatstrauer angeordnet.

Die Rede des Kremlchefs dürfte auch deswegen in Warschau besondere Beachtung finden, weil die Beziehungen zwischen Russen und Polen als schwierig gelten. Das Verhältnis hatte sich aber zuletzt gebessert.

Obama: Kaczynskis Tod schlimmer Verlust für die Welt

Auch US-Präsident Barack Obama hatte mit dem polnischen Regierungschef Donald Tusk telefoniert und zum Tod von Präsident Lech Kaczynski kondoliert.

„Der heutige Verlust ist verheerend für Polen, die USA und die Welt“, hieß es anschließend in einer schriftlichen Erklärung Obamas. Der US-Präsident nannte Kaczynski einen hervorragenden Staatsmann, der wegen seines führenden Einsatzes für Freiheit und Menschenwürde bewundert worden sei. Mit ihm seien bei dem Absturz in Russland viele andere hochrespektierte zivile und militärische Führungspersönlichkeiten gestorben, die beim demokratischen Wandel in Polen mitgewirkt hätten. „Wir teilen die Trauer des polnischen Volkes“, erklärte Obama.

„Heute sind überall in Amerika die Herzen schwer. Die USA schätzen die tiefen und beständigen Bande mit dem polnischen Volk.“