US-Präsident Barack Obama hat eine riesige Hilfsaktion anlaufen lassen. Doch in Tausenden Fällen kommt jede ärztliche Hilfe zu spät. In den Feldhospitälern sterben Schwerverletzte.

Hamburg/Port-au-Prince. Es war, als hätte sich - wie in Dantes Inferno - ein weiterer, tieferer Höllenkreis für die Verzweifelten geöffnet. Die schwer verletzten Opfer der Erdbebenkatastrophe hatten es bis in das kleine Feldlazarett geschafft, lagen dort wimmernd vor Schmerzen, klammerten sich mit letzten Kräften an ihr Leben. Um dann zu sehen, wie sich Ärzte und Schwestern aus dem Staub machen.

Wie der US-Sender CNN berichtete, hatte der belgische Chef-Koordinator Gert Gijs von der Uno vergeblich militärischen Schutz vor Plünderern für die Nacht angefordert. Daraufhin zog er die 60 Ärzte und Schwestern aus dem Feldhospital von Port-au-Prince ab. Die Uno leistete, ebenso wie bei einem kanadischen Ärzteteam, immerhin Schutz bei der Evakuierung. "Es war eine harte Entscheidung", sagte Gijs. "Die Evakuierung des Ärzteteams ist unverzeihlich", schäumte US-Generalleutnant Russel Honore, der die Hilfsmaßnahmen beim Hurrikan "Katrina" 2005 koordiniert hatte. "Ich habe so etwas noch nie erlebt."

Inmitten des Infernos aus Schmerz, Angst und Tod blieb der Medizin-Redakteur von CNN zurück, Sanjay Gupta, ein gelernter Arzt. Er blieb die Nacht über bei den Patienten, darunter Amputierten und Opfern in kritischem Zustand, konnte aber nicht viel ausrichten, da die Belgier auch die meisten Vorräte wie Blutkonserven mitgenommen hatten.

Wie viele Menschen auf der Antilleninsel ums Leben gekommen sind, weiß derzeit noch niemand. Noch immer sind viele Straßen in der Hauptstadt voller Leichen, erfüllt Verwesungsgestank die Luft. Die meisten Überlebenden können sich Schutzmasken nicht leisten - sie schmieren sich Zahnpasta unter die Nasen, um den bestialischen Geruch abzuwehren. Mehr als 13 000 Tote waren bis zum Wochenende geborgen worden, allein in der Hauptstadt könnte es 100 000 bis 150 000 Tote gegeben haben. Tausende liegen unbestattet in der glühenden Sonne herum, es wächst die Gefahr von Seuchen. Massengräber werden hastig ausgehoben oder die Leichen einfach auf der Straße mit Benzin verbrannt.

Für die internationale Hilfe ist es ein Rennen gegen die Zeit. Noch am Sonnabend zogen allein die amerikanischen Retter 22 Überlebende aus den Trümmern. Am frühen Sonntagmorgen erreichte eine SMS von einer tief unter Beton begrabenen Frau ein Rettungsteam: "Ich bin in Ordnung, aber helft mir - ich kann nicht noch mehr ertragen." Das Team aus Los Angeles grub fieberhaft auch in der Dunkelheit weiter, doch es wurden keine Lebenszeichen mehr aufgefangen.

Je mehr Zeit vergeht, desto öfter wird aus einer Rettung eine Bergung. Das Erdbeben in der Stärke von 7,0 auf der Richterskala ereignete sich bereits am Dienstag vergangener Woche.

Und selbst viele der Geretteten sterben anschließend. "Sie sterben an Infektionen, an abgestorbenem Gewebe, an Unterernährung und Organversagen", sagte die US-Ärztin Jennifer Furin, die in einem Notlazarett der Uno am Flughafen 300 Patienten betreut. Ein Drittel von ihnen, so sagte Furin gegenüber CNN, werde ohne rasche chirurgische Hilfe sterben. So konnte auch die elfjährige Annaika St. Louis nicht mehr gerettet werden, die am Donnerstag ausgegraben worden war. Die Ärzte hatten in ihrer kleinen lokalen Hilfsstation nicht die nötige Ausrüstung, um ihr zerquetschtes Bein zu behandeln. "Mutter, lass mich nicht sterben", waren ihre letzten Worte.

Immer schrillere Schmerzensschreie gellen durch das Feldhospital, und die Ärzte versuchen, die unerträglichen Schmerzen der Menschen mit Morphium zu lindern - vor allem bei Opfern mit Beckenbrüchen. Bei etlichen stoßen die zersplitterten Knochen durch die Haut nach außen. Ein Team aus israelischen Militärärzten hat begonnen, die schwersten Fälle zu operieren.

Doch die dringend benötigte medizinische Hilfe kann aufgrund der zerstörten Infrastruktur nur langsam wirken. 30 internationale Hilfsteams sind bereits vor Ort. Viele Retter sind verzweifelt darüber, dass Ausrüstung und Nachschub nicht rechtzeitig ankommen. Angesichts der oft ausbleibenden Hilfe werden die Haitianer immer ungehaltener. Washington hat eine gigantische Hilfsaktion anlaufen lassen, die selbst den Aufwand beim Jahrhundert-Tsunami von 2004 weit übersteigt. Damals waren 700 US-Soldaten im Einsatz, jetzt sollen rund 10 000 Soldaten und Angehörige der US-Küstenwache anpacken.

Doch das riesige Lazarettschiff "USNS Comfort" mit 250 Betten und 550 Ärzten wird erst Ende der Woche vor Ort eintreffen. Dazu ist der Seehafen der Hauptstadt schwer beschädigt und derzeit unbenutzbar. Die meisten Hilfslieferungen kommen daher aus der Luft an; US-Truppen haben den Flughafen von Port-au-Prince übernommen. Eine Flotte anderer US-Kriegschiffe, wie der 97 000 Tonnen verdrängende Flugzeugträger "USS Carl Vinson", liegt bereits vor der Küste. Auch das gewaltige Amphibienschiff "USS Bataan" mit 2200 Marineinfanteristen, sechs Operationssälen und 600 Krankenbetten ist dabei. Das US-Militär räumt den eigenen Aktionen und der Anlandung von Soldaten absolute Priorität ein. Internationale Hilfsorganisationen haben das Nachsehen. Frankreichs Staatssekretär Alain Joyandet beschwerte sich offiziell bei der US-Regierung, nachdem die amerikanischen Militärs zwei französische Maschinen, eine mit einem Feldlazarett, nicht landen ließen.

Die amerikanischen Elitesoldaten werden auch gegen bewaffnete haitianische Banden vorgehen müssen, die das Elend und die Abwesenheit staatlicher Autorität ausnutzen. Seit dem Einsturz der Gefängnisse sind zudem rund 6000 zum Teil schwer kriminelle Häftlinge auf freiem Fuß. Durch die Straßen von Port-au-Prince zogen am Wochenende Scharen von Kriminellen mit Macheten und anderen Waffen, traten die Türen von Geschäften ein und plünderten sie. Es kam zu blutigen Verteilungskämpfen mit Messern und Schusswaffen.

Auch Überfälle auf bereits versorgte Notleidende häuften sich. Fred Lavaud, der zum Sicherheitsteam von Haitis Präsidenten Réne Préval gehört, schilderte der "New York Times", wie Frauen überfallen wurden, denen man zuvor Nahrungsmittel gegeben hatte. "Die Menschen sind verzweifelt", sagte Lavaud. In der Dämmerung lieferte die Polizei nach Bericht der "New York Times" einen Plünderer einem Mob im Stadtteil Petionville aus. Der Mann wurde halb tot geprügelt, in einen Müllcontainer geworfen und lebendig verbrannt.

Für US-Präsident Barack Obama ist dies eine Stunde der Bewährung. Obama will nach dem Jahrhundert-Versagen seines Vorgängers George W. Bush im Fall "Katrina" beweisen, dass er eine derartige humanitäre Krise meistern kann. Nur noch 53 Prozent der Amerikaner halten laut ABC/"Washington Post"-Umfrage seine Amtsführung für gut. Obama ernannte George W. Bush und Bill Clinton zu Sonderbeauftragten für das Einsammeln von Spenden in den USA und schickte seine Außenministerin Hillary Clinton nach Haiti, die dort erklärte, die USA würden "heute, morgen und in der kommenden Zeit bleiben".