Taliban und al-Qaida wollen mit ihrer Anschlagsoffensive die Ohnmacht des Westens vor Augen führen. Den USA fehlt eine Strategie.

Hamburg/Kabul/Peschawar. Der Peepal-Mandi-Straßenmarkt in der Altstadt der pakistanischen Stadt Peschawar wird vor allem von Frauen besucht, die mit ihren Kindern hierherkommen, um einzukaufen. Auch gestern herrschte Gedränge in dem Viertel mit seinen engen Gassen und alten Backsteinhäusern, als eine gewaltige Detonation den Markt erschütterte. Trümmer von Gebäuden und Marktständen flogen durch die Luft; nach Berichten geschockter Augenzeugen lagen überall Leichenteile herum, sterbende Menschen wälzten sich in ihrem Blut. Mehr als 90 Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, kamen ums Leben, mehr als 200 wurden verletzt.

Ein Feuer fraß sich durch die Altstadt. Ein zweistöckiges Haus stürzte ein, als Feuerwehrleute es löschen wollten. Der Autobomben-Anschlag dürfte auf das Konto der radikalislamischen Taliban-Milizen oder des Terrornetzwerks al-Qaida gehen. Am selben Tag stürmten schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer, als Polizisten verkleidet, ein Gästehaus der Uno mitten im Geschäfts- und Hotelviertel Schar-e-Now der afghanischen Hauptstadt Kabul. In einer wilden, drei Stunden dauernden Schießerei töteten sie sechs Uno-Mitarbeiter und einen afghanischen Zivilisten. Weitere neun Menschen wurden verletzt, darunter nach Angaben des Auswärtigen Amtes auch ein Deutscher. Am Ende sprengten sich drei Terroristen selber in die Luft.

Die Anschläge von Kabul und Peschawar richten sich zum einen gegen die Bemühungen des Westens, in Afghanistan per Stichwahl doch noch glaubwürdig einen Präsidenten zu bestimmen und damit zur Stabilität in Afghanistan beizutragen. Zum anderen wollen die Taliban damit signalisieren, dass sie ungeachtet der Großoffensive der pakistanischen Armee mit 30.000 Soldaten in der Taliban-Hochburg Waziristan handlungsfähig sind und jederzeit zuschlagen können.

Dass der Anschlag von Peschawar mit dem Auftakt eines dreitägigen Staatsbesuchs der amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton in Pakistans Hauptstadt Islamabad zusammenfiel, war natürlich kein Zufall. Es war schließlich die amerikanische Regierung, die ihren schwankenden Verbündeten Pakistan zu dieser Offensive gedrängt hatte.

Pakistan ist der Schlüssel zum Verständnis der afghanischen Frage. Die Taliban - wörtlich (Koran-)Schüler - sind hier in den Madrassen entstanden, den "Schulen des Hasses"; in Pakistans nordwestlichen Stammesgebieten haben die Taliban ihre Rückzugsräume und Trainingslager. Die grenzüberschreitenden Angriffe des US-Militärs mit Kampfdrohnen und Jagdkommandos haben viele zivile Opfer gefordert und den Hass auf die USA gefährlich gesteigert. Peschawar ist die Hauptstadt der Grenzprovinz und liegt unweit der Stammesgebiete.

US-Präsident Barack Obama sieht den Herd des Konflikts in Pakistan; seine Außenministerin Clinton bietet der instabilen Regierung von Präsident Asif Ali Zardari, der ein weitgehend amerikafeindlich eingestelltes Volk regiert, daher sieben Milliarden Dollar Wirtschaftshilfe an. Dahinter steht die Sorge, die immer aggressiver agierenden Radikalislamisten könnten die Regierung in Islamabad stürzen und die Kontrolle über Pakistans Atomwaffenarsenal erhalten. Damit hängt auch zusammen, dass der indische Premier Manmohan Singh unter dem Eindruck des Anschlags von Peschawar dem Erzrivalen Pakistan, gegen den Indien bereits mehrere Kriege geführt hat, die Versöhnung anbot. Bedingung: Islamabad müsse islamistische Terrorgruppen wie die Taliban-nahen Lashkar-e-Taiba zerschlagen, die auch Indien angreifen. Wie der Westen graust sich das mehrheitlich hinduistische und demokratische Indien vor atomar bewaffneten Islamisten. Doch mit welcher Militärstrategie die AfPak-Krise gelöst werden soll, ist unklar. Die amerikanische Generalität verlangt eine sofortige Aufstockung der US-Truppen in Afghanistan um mehr als 40.000 Mann. 100.000 Soldaten sind schon da - und richten wenig aus. Der grobe Plan: amerikanische und pakistanische Großoffensiven beiderseits der Grenze; Taliban und al-Qaida würden zwischen Hammer und Amboss zerschlagen. Obama zögert jedoch, er weiß, dass die Mehrheit der amerikanischen Bürger nach acht Jahren kriegsmüde ist. Und nach einer ABC-News/"Washington Post"-Umfrage sind 63 Prozent der Amerikaner der Auffassung, dass Obama gar keinen schlüssigen Plan für Afghanistan hat.

Die US-Administration ist gespalten; Verteidigungsminister Robert Gates ist für die Truppenaufstockung, Vizepräsident Joe Biden dagegen; er will vorrangig al-Qaida bekämpfen.

Wie einst der alte Cato in jeder römischen Senatssitzung die Zerstörung Karthagos forderte, so verlangt Obamas alter republikanischer Rivale John McCain bei jeder Gelegenheit die Truppenaufstockung und die Zerschlagung der Taliban.

Obama will zunächst die Präsidentschafts-Stichwahlen am siebten November in Kabul abwarten. Da noch zahllose gefälschte Wahlzettel aus dem letzten Urnengang im Umlauf sind, dürften sie kaum weniger korrupt verlaufen als die vorige Wahl. Washington erhofft sich von einer klaren Bestätigung seines - inzwischen jedoch arg aus der Gunst gefallenen - Verlegenheits-Favoriten Hamid Karsai eine Beruhigung der Lage. Ob dies gelingen kann, ist äußerst fraglich; Karsai und sein Clan gelten als durch und durch korrupt - und den Afghanen als Handlanger Washingtons. Zentrales Problem ist eben, dass das in archaischen Stammesstrukturen organisierte Volk aus leidvoller historischer Erfahrung dazu neigt, ausländische Truppen grundsätzlich als Besatzer wahrzunehmen. Und viel zu spät haben die Amerikaner versucht, auf eine schonendere Kriegsstrategie in der Region umzustellen.

Es war ein schwerer Schlag für Obama und seinen Afghanistan-Sondergesandten Richard Holbrooke, dass der angesehene US-Beamte und hoch dekorierte Offizier Matthew Hoh, ehemals höchster US-Vertreter in der afghanischen Provinz Zabul, jüngst seinen Rücktritt einreichte und erklärte, der Krieg könne nicht mehr gewonnen werden. Viele Afghanen, schrieb Hoh, bekämpften die US-Truppen nur deshalb, weil sie im Land seien. Der oft unsensibel agierende Holbrooke gilt als gescheitert und hat sich mit Karsai überworfen.

Und al-Qaida ist auch im Irak wieder stärker aktiv. Mit dem verheerenden Doppelanschlag in Bagdad vom Sonntag mit 155 Toten zeichnet sich eine Strategie ab: der Destabilisierung der vom Westen beeinflussten Spange Irak-Afghanistan-Pakistan. Den Menschen dort soll die Unfähigkeit des Westens vor Augen geführt werden, für Sicherheit zu sorgen. Letztlich sollen die Länder reif für einen Gottesstaat gebombt werden. Irak, Afghanistan, Pakistan - eine ganze Region steht am Abgrund.

In das Mosaik des Terrors fügt sich auch der Anschlag der radikalen Gruppe Jundallah auf die Revolutionsgarden des schiitischen Iran mit 42 Toten am 18. Oktober. Jundallah, streng sunnitisch wie al-Qaida und Taliban, operiert von Pakistan aus.

Gefährlich überkreuzen sich hier die Antagonismen in diesem regionalen Großkonflikt: Auf die Frontstellung zwischen militanten Islamisten und dem Westen trifft die alte Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten, Persern und Arabern. Die mutmaßliche Strategie Teherans, auch qua Nuklearwaffen zur regionalen Vormacht aufzusteigen, wird nicht nur in Washington und Jerusalem mit Besorgnis gesehen. Die sunnitischen Staaten der Region - voran die arabische Führungsmacht Saudi-Arabien - fühlen sich herausgefordert.