Er ist eine gespaltene Persönlichkeit. Der ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karadzic soll für Massaker verantwortlich sein.

Hamburg/Den Haag. Im Jahre 1992 steht ein Mann mit scharf geschnittenem Gesicht und silberner Mähne auf einem Berg über dem belagerten, brennenden Sarajevo. Während neben ihm Rohre serbischer Panzer drohend ragen, greift er sich ein Maschinengewehr, feuert eine Salve in die Wohnhäuser tief unter ihm und deklamiert salbungsvoll Zeilen aus einem selbst verfassten Gedicht: "Ich höre die Schritte der Zerstörung, die Stadt brennt wie der Weihrauch in der Kirche. In dem Rauch sehe ich unser Gewissen ..."

Die gespenstische Szene - Serbenführer Radovan Karadzic in der Pose des psychopathischen Kaisers Nero über dem brennenden Rom - hat die britische BBC damals auf Video festgehalten. Sie illustriert die diabolische Doppelköpfigkeit dieses ebenso mysteriösen wie mörderischen Mannes, der, 1945 in bitterarmen Verhältnissen in Montenegro geboren, erst zum erfolgreichen Psychiater, dann zum Präsidenten der bosnischen Serben aufstieg und in diesem Amt in geradezu unbeschwerter Gemütsverfassung den Tod Zehntausender Bosnier herbeiführte.

Nun steht Karadzic in Den Haag vor Gericht - wegen Völkermordes, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter anderem wirft man ihm vor, die bosnisch-serbische Soldateska 1995 zu ihrem Massaker an fast 8000 Jungen und Männern der bosnischen Muslime in der Uno-Schutzzone Srebrenica angestachelt zu haben; dem schlimmsten Verbrechen in Europa seit dem Holocaust. Und man lastet ihm auch die Verantwortung für die 44 Monate währende Belagerung Sarajevos zwischen 1992 und 1995 an, der rund 10 000 Menschen zum Opfer fielen.

Den Prozessauftakt vor dem Uno-Strafgericht für das ehemalige Jugoslawien boykottierte Karadzic und ließ kühl erklären, er habe nicht genügend Zeit für die Vorbereitung der Verteidigung gehabt. Doch Zeit hatte er seit Juli 2008 gehabt, als er gefasst wurde - nach nahezu 13-jähriger Flucht. Warum es ihm gelungen war, so lange unbehelligt zu bleiben, trotz fünf Millionen Dollar Kopfgeld, warum ihn die Jagdkommandos der Nato über viele Jahre nicht fassen konnten, bleibt ein Rätsel. Immer wieder kursieren Gerüchte, der amerikanische Unterhändler und ehemalige US-Botschafter in Deutschland, Richard Holbrooke, habe Karadzic im Juli 1996 nur mit einer massiven Gegenleistung zum Rücktritt als Präsident der bosnischen Serben überreden können: Verzicht auf Verfolgung. Doch das ist unbewiesen. Man darf annehmen, dass seine Verhaftung auch deshalb möglich wurde, weil in Belgrad inzwischen eine prowestliche Regierung am Ruder war und die EU-Außenminister eine Annäherung Serbiens an die Europäische Union auch von dieser Frage abhängig gemacht hatten.

Karadzic hatte derweil unter dem Namen Dr. Dragan Dabic eine Praxis in Belgrad betrieben. Der Name stammte von einem Bauern, an dessen Papiere er irgendwie gelangt war. Karadzic hatte sich einen ellenlangen Bart wachsen lassen, die mittlerweile schlohweißen Haupthaare nach Art antiker chinesischer Krieger auf den Kopf geknotet und sich eine enorme Brille aufgesetzt. Als Wunderheiler leitete er nun Energieströme segensreich im Körper der Patienten um.

Der Lebensweg des Dr. Radovan Karadzic zeichnet einen grotesken Kreisverlauf: vom fürsorglichen Psychiater und hoch sensiblen Poeten, der Kinderbücher und fünf Gedichtbände schrieb, zum glühenden serbischen Nationalisten, Kriegsherrn und Anstifter von Massenmord - und zurück zum Heiler und Verfasser von Volksliedern.

"Es ist unmöglich, ihn zu verstehen", zitierte die "Zeit" den Psychiater Ismet Ceric, einen ehemaligen Weggefährten Karadzics. "Er geht in die Politik, und in nur ein paar Monaten ist alles anders. Er bombardiert die Stadt, zerstört unsere Klinik und tötet seine Freunde, mit denen er 20 Jahre lang zusammengelebt hat." Ceric erinnerte sich daran, dass Karadzic einmal verlangte, alle Serben zu erschießen, die sich weigerten, Bosnier zu töten. "Ich fragte mich: Wer ist das? Ich habe ihn als einen Weichling gekannt, den seine Frau vor unseren Augen mit ihrem Stöckelschuh geschlagen hat. Und plötzlich zeigt sich die Bestie in ihm."

Heute soll der Prozess in Den Haag fortgesetzt werden; notfalls auch ohne den Angeklagten.