Hat der Dalai Lama recht mit seinem Vorwurf, Peking betreibe in Tibet einen “kulturellen Völkermord“? Abendblatt-Autor Holger Dohmen analysiert die dramatische Umformung, der Tibet unterworfen wird.

Hamburg. Aufruhr auf dem Dach der Welt. Dort, wo im August die olympische Flamme entzündet werden soll. Doch von dem Motto der Spiele - "Eine Welt, ein Traum" - ist das dort lebende Volk weit entfernt.

Tibets Bürger sind verzweifelt. Und es ist diese Verzweiflung, die sie in diesen Tagen auf die Straßen treibt. Dazu gesellt sich wieder einmal, wie schon so oft in den vergangenen Jahrzehnten, die Enttäuschung über eine Weltöffentlichkeit, die mit dem Schicksal des Himalaja-Volkes allenfalls noch folkloristische Gefühle und Erinnerungen verbindet.

57 Jahre nach der angeblichen Befreiung Tibets durch Truppen im Mai 1951 und fast 50 Jahre nach der Flucht des religiösen und politischen Oberhaupts des Bergstaates, des Dalai Lama, sehen viele Tibeter in den Olympischen Spielen die vielleicht letzte Möglichkeit, ihr Anliegen noch einmal der Welt vor Augen zu führen.

Das, aber nur das, ist ihnen schon jetzt gelungen, denn die Machthaber in Peking werden sich durch den Aufstand und internationale Proteste wenig beeindrucken lassen. Chinas Führung denkt nicht in kurzfristigen Zeiträumen, und die Drohung mit einer möglichen Absage der Olympischen Spiele ist in ihren Augen kaum mehr als ein Papiertiger. Druck von außen haben sich Präsident Hu Jintao und Premier Wen Jiabao wie auch ihre Vorgänger noch nie gebeugt.

Gewiss, die Männer im Zhongnanhai, dem Regierungssitz in Peking, passen die Bilder nicht, die auf verbotenen Wegen aus Tibet in die Welt gelangen: prügelnde Polizisten, Soldaten in Panzern, umgestürzte und brennende Autos auf den Straßen von Lhasa.

Auch sie hätten sich Spiele gewünscht, die das Bild eines sich wandelnden und freundlich lächelnden Staates zeigen und nicht die furchtsamen Gesichter von Angehörigen eines gewaltsam unterdrückten kleinen Volkes.

Doch zu einer grundsätzlichen Kurskorrektur sind Partei und Regierung im Reich der Mitte nicht bereit.

Hat der Dalai Lama also recht, wenn er zu so drastischen Formulierungen greift wie der, im Reich der Mitte gebe es einen "kulturellen Völkermord"?

Die Antwort muss differenziert ausfallen, wie ein Blick auf die politische Strategie Pekings in den vergangenen Jahren zeigt. Oberstes Ziel der kommunistischen Führung ist und bleibt die sogenannte Sinisierung der autonomen Region, also die kulturelle und ethnische Überformung zugunsten der Chinesen. Während diese in den Tagen der Kulturrevolution in den 60er- und 70er-Jahren durch systematische Verfolgung und Totschlag erfolgte, beschränkt sie sich heute auf die Durchdringung tibetischen Lebens mit dem chinesischen "way of life".

Der Premierminister der tibetischen Exilregierung in Indien, Samdhong Rinpoche, orakelte vor Jahren einmal: "Die Chinesen haben die Tibeter nicht mit Folter, auch nicht mit der Kulturrevolution von ihrem Glauben abbringen können. Aber in den letzten Jahren haben sie mit dem Konsumdenken viele Tibeter erreicht."

Wer wie der Autor dieser Zeilen das Land bereist und Gelegenheit gehabt hat, mit Tibetern zu sprechen, erfährt dennoch schnell, dass zwischen Chinesen und Einheimischen bis heute keine wirkliche Freundschaft herrscht. Tibet ist und bleibt ein besetztes Land. Eine gezielte Einwanderungspolitik hat in der Vergangenheit die Tibeter zu einer Minderheit im eigenen Land gemacht. Mehr als acht Millionen chinesische Siedler leben heute neben den sechs Millionen Tibetern. Die systematische Veränderung der demografischen Struktur des Himalaja-Staates ist die größte Gefahr für das Fortbestehen der tibetischen Kultur.

Daran ändert auch Pekings Bereitschaft nichts, dem tief religiösen Volk wieder etwas mehr religiöse Freiheit zu gestatten. So gibt es wieder Schulen, an denen der tibetische Buddhismus gelehrt wird und eine vom Staat festgelegte Anzahl von Mönchen ausgebildet wird. Auch restaurieren die Chinesen seit Jahren im großen Stil bedeutende Klöster, die aber vor allem betuchte ausländische Touristen anziehen sollen.

In Wirklichkeit gelten Klöster den Machthabern auch heute noch als Hort des Widerstandes. Sie werden systematisch mit regimetreuen Mönchen infiltriert. Und auf den Pilgerwegen rund um den Jokhand-Palast schleichen auch heute noch Angehörige der Geheimpolizei herum, die einschreiten, sobald irgendwo das Bild des Gottkönigs, des Dalai Lama, gezeigt wird. In jüngster Zeit mehrten sich Zwischenfälle, in denen junge Mönche, die das Bild des Dalai Lama mit sich trugen, rigoros verfolgt wurden

Dem Friedensnobelpreisträger gilt der ganze Hass des Regimes, von ihm spricht die Führung in Peking nur als der "Dalai-Lama-Clique". Damit meint sie die Exilregierung im indischen Dharamsala, die bis heute nicht die Hoffnung aufgegeben hat, eines Tages wieder nach Lhasa zurückkehren zu können.

Bislang stand bei diesem Wunsch der Gedanke der Gewaltlosigkeit im Vordergrund. Doch wächst im indischen Exil eine sich radikalisierende Anhängerschaft des Dalai Lama heran. Aus Dharamsala kamen in den letzten Tagen denn auch die radikalsten Parolen. Hier wurde offensichtlich der Plan geschmiedet, die vorolympische Zeit als Zeit des Protestes gegen Peking zu instrumentalisieren. Hier sind radikale Kräfte längst weiter als der Dalai Lama, der sich in der Tradition Mahatma Gandhis sieht und auf friedlichem Wege mehr Autonomie für Tibet erreichen will. Die jungen Heißsporne wollen dagegen einen unabhängigen Staat Tibet, der von Peking kategorisch abgelehnt wird.

Völkerrechtlich bewegt sich China dabei auf dünnem Eis. Denn auch wenn es Zeiten gegeben hat, in denen zwischen China und Tibet ein tributäres Verhältnis existierte, war das Land zwischen 1913 und 1950 ein in jeder Hinsicht unabhängiger Staat. Zu diesem Urteil war 1960 die Internationale Juristenkommission in Genf gekommen, ein Jahr später wurde das von der Uno-Generalversammlung ausdrücklich anerkannt.

Seitdem wartet Tibet vergeblich auf das Recht auf Selbstbestimmung.

Wenn Peking heute Tibet als autonome Region bezeichnet, ist dies jedoch mehr als eine Farce. Denn in Wirklichkeit werden alle wichtigen Entscheidungen in Chinas Hauptstadt getroffen. Alle Angebote des Dalai Lama, sich auf einen Kompromisskurs zu einigen, lehnte Peking mit dem Hinweis ab, der Religionsführer betreibe eine Abspaltung Tibets. Die hatte der jedoch nie im Sinn, auch wollte er nie an der Regierung beteiligt sein, sondern seinem Volk nur als spiritueller Führer dienen.

In jüngster Zeit denkt der weltweit beliebte Friedensnobelpreisträger immer häufiger über seine Zukunft nach. Der am 6. Juli 1935 geborene Sohn armer Kleinbauern war 1940 als 14. Dalai Lama in den Potala-Palast in Lhasa eingezogen. In der tibetischen Tradition würde nach seinem Tod eine Reinkarnation als Nachfolger gesucht.

Doch wird es dazu kommen? Alles spricht dafür, dass Peking auch diese Tradition brechen wird.

Schon 1995 hatte China den vom Dalai Lama ausgesuchten Panchen Lama, die zweitwichtigste geistliche Figur Tibets, festgenommen und einen eigenen Panchen Lama ernannt. Pekings Rechnung ist einfach: Stirbt dieser Dalai Lama, wird es keinen Nachfolger geben. Nur eine Marionette, die dem Willen der Mao-Nachfolger ergeben ist. Damit wäre der kulturelle Völkermord wohl wirklich vollendet.