22 Staaten, 175 Millionen Menschen - und wo der Zorn auf die Alliierten seinen Ursprung hat.

Hamburg. Mit wutverzerrten Gesichtern schwenken syrische Demonstranten die Flagge ihres Nachbarlandes. "Irakisches Volk, wir sind mit dir", skandieren sie. Ein Libyer hält eine Bush-Puppe in der Hand. "Bush, Blair, Mörder" ruft er und zündet sie an. In Kairo steht der Protest auf Transparenten, die mit künstlichem Blut gesprenkelt sind: "Arabische Führer, fahrt zur Hölle". Die arabische Volksseele ist getroffen. Von US-Bomben und der Untätigkeit der eigenen Führer. Saddam ist zwar ein Schurke. Das irakische Volk aber gehört zu ihnen - zu den Arabern, die heillos zerstritten und doch irgendwie eins sind. Die arabischen Herrscher indes halten still. Viele von den USA abhängig und dem Volkszorn verpflichtet, haben sie Angst um ihre Pfründe. Zahnlos war der Appell, den die Staatschefs der Arabischen Liga Anfang der Woche nach Washington schickten. Auf 22 Staaten verteilt sich die arabische Welt. Beherrscht von Monarchen, Militärs und Staatschefs mit zweifelhafter Legitimation leben hier 175 Millionen Menschen mit derselben Sprache, derselben Kultur und demselben Glauben. Mit Wehmut erinnert sich mancher Araber an die Zeit, da sein Volk die halbe Welt eroberte. Unter dem Banner Mohammeds errichtete es ein Reich, das von Spanien über Nordafrika weit über den Iran hinaus reichte. Es war die Religion, die die Araber im siebten Jahrhundert einte und aus den einstigen verfeindeten Beduinenstämmen ein Volk machte. Noch heute hält der gemeinsame Glaube die arabischen Stammesgesellschaften weit mehr zusammen als ihr Nationalgefühl. Allein, der Bruderzwist stellte sich schnell ein. Schon 662, nur 30 Jahre nach dem Tode Mohammeds, spaltet ein Streit seine Anhänger. Es geht um das Amt des Kalifen, des Prophetennachfolgers. Zwei Bewerber stehen zur Auswahl: Ali, der Vetter Mohammeds, und Othman, ein Freund des Propheten. Nur ein Blutsverwandter könne Mohammed beerben, finden die Anhänger Alis, die sich fortan Schiiten (Schiat Ali = Partei des Ali) nennen. Othmans Anhänger, die Sunniten (Sunna = Erläuterung des Korans, von Prophetengefährten überliefert), wollen den Führer wählen. Othman und Ali werden ermordet. Die Bluttaten entzweien das noch junge Reich der Araber. Ein Schisma, das bis heute Bestand hat. Zunächst beherrschen die sunnitischen Kalifen von Damaskus aus das Riesenreich. Dann übernehmen die Schiiten das Ruder, und Bagdad wird die Perle des Morgenlandes. Es folgen die Jahre des Absolutismus, des märchenhaften Reichtums aus 1001 Nacht. Erst die Mongolen unter einem Enkel Dschingis Khans setzen dem arabischen Glanz im Jahre 1258 ein jähes Ende. Fortan sind die Araber fremdbeherrscht. Auf die Mongolen folgt die Tyrannei der Tartaren. Im Osmanischen Reich, das seit dem 16. Jahrhundert die Vorherrschaft über die Region hat, ist es nicht mehr als eine Provinz. Doch der arabische Geist schläft nur. Mit dem türkischen Niedergang im 19. Jahrhundert erwacht in den Arabern der Wunsch, in der Weltpolitik wieder mitzumischen. "Nahda" heißt die Parole - "Erneuerung". Eine wiedererwachte Gesellschaft soll dem machthungrigen Westen die Stirn bieten. Der hat mit der Fertigstellung des Suez-Kanals 1869 die Region ins Zentrum des geostrategischen Interesses gerückt. Zudem entgeht den Arabern nicht, dass Europa mit dem Beginn des Öl-Zeitalters auf die beträchtlichen Rohstoffreserven der Region schielt. Zunächst aber gilt es, die osmanischen Herrscher loszuwerden. Durch die Abgrenzung von den ebenfalls muslimischen Besatzern entwickelt sich erstmals ein arabischer Nationalismus. Während des ersten Weltkriegs kommt es zum Aufstand, wenn auch nicht allein aus eigener Kraft. Die Engländer steuern den arabischen Kampf gegen die Türken geschickt über einen Mittelsmann, Thomas Edward Lawrence, den legendären Lawrence von Arabien. Sie stellen den Arabern einen eigenen Staat in Aussicht. Doch es kommt anders. Auf dem Reißbrett zerlegen Briten und Franzosen die arabische Konkursmasse des Osmanischen Reiches in Mandatsgebiete. London bekommt den Irak, Jordanien und Palästina. Syrien und der Libanon gehen an Paris. Die einzelnen Länder sind keine Nationalstaaten. Innerhalb ihrer Grenzen sammelt sich ein explosives Völkergemisch. "Von Anfang an", sagt Lawrence von Arabien später bitter, "waren unsere Versprechen nichts als leeres Papier." In den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen erreichen zwar die ersten Staaten ihre Unabhängigkeit, aber zugleich verstärken sich die Spannungen unter ihnen. Feindschaften zwischen einzelnen Dynastien, die Generationen alt sind, brechen wieder auf. Und die Gegensätze zwischen den reichen - erdölexportierenden - und den armen Ländern verschärfen sich. Doch auch das Gemeinschaftsgefühl bekommt neue Nahrung: durch den wachsenden Hass auf die zionistischen Einwanderer nach Palästina. Die Gründung des Staates Israel 1948 verwandelt die arabische Welt in ein Pulverfass. Sie erinnert an die enttäuschten Hoffnungen auf einen eigenen Staat. Erneut fühlen sich die Araber verstoßen, verdrängt und benutzt. Die internationalen Sympathien fließen den Überlebenden des Holocaust zu - und nicht der palästinensischen Bevölkerung, von der drei Viertel (ca. 800 000) ins Exil getrieben werden. Auch die militärischen Niederlagen gegen Israel treffen das arabische Selbstbewusstsein ins Mark. Zwar gibt es seit 1945 die Arabische Liga, doch zu einer Einigung der arabischen Staaten kommt es nie. Dabei hat der neue ägyptische Machthaber, Gamal Abdel Nasser, einen Ansatz für den lang ersehnten panarabischen Staat geschaffen: Ägypten und Syrien bilden die "Vereinigte Arabische Republik". Der Irak aber, der in den 50er-Jahren mit innenpolitischen Kämpfen beschäftigt ist, tritt nicht bei. Der Traum von einem Reich, das sich vom Golf bis zum Atlantik erstreckt, ist endgültig Makulatur. Stattdessen geraten die arabischen Länder mehr und mehr zwischen die Fronten des Kalten Krieges. Während Nasser die Anlehnung an die Sowjetunion sucht, machen die USA Saudi-Arabien zu ihrem Verbündeten in der Region. Das Verhältnis der arabischen Welt zu den Vereinigten Staaten ist ambivalent. Einerseits halten die Amerikaner ihre schützende Hand über den Erzfeind Israel. Andererseits unterstützen sie die islamistischen Hardliner. Denn in seinem Kampf gegen den Kommunismus spielt Amerika die religiösen Regime gegen die "Progressiven" aus, die als Ungläubige und Kommunisten abgestempelt werden. Auch Saddam Hussein erhält zunächst Hilfe aus Washington - obwohl er im Irak ein pseudo-sozialistisches Regime etabliert. Der 1980 begonnene Krieg des Diktators gegen das militant antiamerikanische Mullah-Regime im Iran ist den Amerikanern wichtiger als Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen seines Regimes. Erst als Saddam 1991 Kuwait besetzt und somit Anspruch auf insgesamt 20 Prozent des Welt-Öls erhebt, greifen die USA ein - und treiben den Despoten zurück nach Bagdad. Was bleibt, sind US-Militärs in Saudi-Arabien - ganz in der Nähe der heiligen Städte Mekka und Medina. Ungläubige im Heiligen Land, das ist ein neuer Stachel im Fleisch der Muslime. Und der Grund für den Terror-Chef Osama bin Laden, gegen Amerika und den ganzen Westen in den Krieg zu ziehen. Zugleich steigt bei den arabischen Völkern die Angst vor einer neuen Dominanz westlicher Kolonialherren. Schon jetzt haben viele den Eindruck, der Irak-Krieg sei eine weitere Niederlage in der Kette von Tiefschlägen für Arabien. Der Zorn auf die Alliierten ist groß. Er entlädt sich in wütenden Demonstrationen nach jedem Freitagsgebet. Und er wächst mit jeder Bombe, die einen Araber tötet.