Berlin. Wahlkrimi in der Türkei: Weil kein Kandidat 50 Prozent erreicht hat, kommt es zur Stichwahl – und in der hat Erdogan bessere Karten.

Der türkische Wahlkrimi geht weiter: Nachdem weder Präsident Recep Tayyip Erdogan noch sein Herausforderer Kemal Kilicdaroglu bei den Wahlen am Sonntag 50 Prozent der Stimmen erreicht haben, kommt es am 28. Mai zur Stichwahl. Wer hat die besseren Chancen? Was bedeutet das für Deutschland und Europa? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie ist das Ergebnis der ersten Runde der türkischen Präsidentschaftswahl?

Nach 20 Jahren an der Macht muss sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan erstmals einer Stichwahl stellen. Erdogan erhielt 49,51 Prozent der Stimmen, Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kommt auf 44,88 Prozent.

Wie geht es nun weiter?

Erdogan und Kilicdaroglu verfehlten die absolute Mehrheit von 50 Prozent. Deshalb wird am 28. Mai eine Stichwahl fällig. Wer die meisten Stimmen bekommt, ist Präsident. Wähler mit türkischem Pass in Deutschland und anderen Ländern können zwischen dem 20. und 24. Mai ihre Stimme abgeben.

Gab es Manipulationen bei der Wahl?

Schon zu Beginn der Abstimmung gab es Zweifel an den von der Staatsagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen. Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara beschuldigten die Regierung, die Werte von Erdogan zu schönen. Kilicdaroglu warf Erdogans Partei AKP vor, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren.

Liegt vorn, muss aber in die Stichwahl: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält nach der Präsidentenwahl am Sonntag eine Rede in der Parteizentrale der AKP in Ankara,
Liegt vorn, muss aber in die Stichwahl: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hält nach der Präsidentenwahl am Sonntag eine Rede in der Parteizentrale der AKP in Ankara, © dpa | Ali Unal

Nach Angaben von Menschenrechtlern sind die Wahlen vor allem in den kurdischen Gebieten weder fair noch demokratisch verlaufen. In der kurdischen Provinz Sirnak hätten türkische Sicherheitskräfte aus gepanzerten Fahrzeugen wahllos Tränengasgranaten in Straßen und Wohnviertel geschossen, berichtete die Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen.

Welchen Einfluss haben die Medien auf die Wahl?

Einen großen. Mehr als 90 Prozent der Medien sind in der Hand von Erdogan-nahen Unternehmern. Sie boten im Wahlkampf dem Präsidenten viel und seinem Herausforderer wenig Raum. Auch vor der Stichwahl kann Erdogan auf die Unterstützung der meisten Medien bauen.

Welche Rolle spielt Sinan Ogan, der dritte Mann?

Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz holte knapp drei Millionen Stimmen, rund fünf Prozent. Er ist eine Art Königsmacher. Der 55-Jährige hat bislang zwar keine Wahlempfehlung ausgesprochen. Aber Ogan will unter anderem, dass die linke, pro-kurdische HDP künftig keine Rolle in der türkischen Politik mehr spielt. Diese Bedingung kann Kilicdaroglu kaum erfüllen – er ist auf die Stimmen der Kurden angewiesen. Das spricht dafür, dass die meisten Ogan-Stimmen in der Stichwahl an Erdogan gehen werden.

Wie wichtig ist die Parlamentswahl, die ebenfalls am Sonntag stattfand?

Erdogans islamisch-konservative AKP und ihr ultranationalistischer Partner MHP werden ihre absolute Mehrheit an Sitzen voraussichtlich halten können. Sollte Kilicdaroglu bei einer Stichwahl gewinnen, könnten sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren, was zu einer Regierungskrise führen könnte. Erdogan scheint dieses Szenario bereits jetzt nutzen zu wollen. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl „Sicherheit und Stabilität“ bevorzugten, erklärte er.

Warum ist die Wahl eine Richtungswahl?

Im Westen wird befürchtet, dass das Nato-Land Türkei in weiteren fünf Jahren Erdogan noch autokratischer werden könnte. Erdogan steht für Protz und Prunk, Kilicdaroglu für Bescheidenheit und Demut. Gewinnt Erdogan, dürfte sich die Türkei zu einer lupenreinen Diktatur entwickeln.

Ein Mann geht an einem Plakat des türkischen CHP-Parteivorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten des Oppositionsbündnisses, Kilicdaroglu, vorbei.
Ein Mann geht an einem Plakat des türkischen CHP-Parteivorsitzenden und Präsidentschaftskandidaten des Oppositionsbündnisses, Kilicdaroglu, vorbei. © dpa | Emrah Gurel

Der Staatschef hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt. Kilicdaroglu trat als Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Kann Erdogan doch noch verlieren?

Theoretisch ja. Doch entgegen der meisten Meinungsumfragen, die Kilicdaroglu vor der Wahl vorne sahen, landete der Amtsinhaber bei knapp unter 50 Prozent. Seine Wählerbasis ist also groß. Zudem ist Erdogan ein erfahrener Wahlkämpfer, der auch vor Schmutzkampagnen nicht zurückschreckt. Kilicdaroglu attackierte er als „Säufer“ und bezeichnete die Opposition als „Terroristen“.

Erdogan dürfte in den knapp zwei Wochen bis zur Stichwahl jede Menge Wahlgeschenke verteilen. Er wirbt mit kostenlosem Gas für ein Jahr, höheren Beamtengehältern und Großprojekten in Infrastruktur und Rüstungsindustrie. Kilicdaroglu verspricht, Korruption und Inflation zu bekämpfen und das Land zu demokratisieren. Erdogans Wahlkampf-Repertoire ist prallvoll.

Warum ist der Wahlausgang für Deutschland und Europa wichtig?

In der Nato ist Erdogan ein unsicherer Kantonist. Er blockiert und verzögert den Beitritt Schwedens zum Bündnis, um die Auslieferung unliebsamer Regimekritiker zu erzwingen. Derlei Pressionsversuche dürften zunehmen. Dabei schreckt Erdogan auch vor Tabubrüchen wie dem Einkauf russischer Luftabwehrsysteme vom Typ S-400 nicht zurück. Erdogan verletzt mit seinen willkürlichen Einzelaktionen das Prinzip der Verlässlichkeit, der wichtigste Kitt in der Allianz.

Ein wiedergewählter Erdogan dürfte in der Flüchtlingsfrage weiter Schicksal mit der EU spielen. Knapp vier Millionen Migranten hat die Türkei aufgenommen – auch ein Ergebnis des im März 2016 geschlossenen Deals mit der EU. Wann immer es Erdogan passt, wird er Brüssel drohen: „Wir öffnen die Tore.“

Ín Duisburg feierten Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan den Wahlausgang mit Autokorsos.
Ín Duisburg feierten Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan den Wahlausgang mit Autokorsos. © dpa | Christoph Reichwein

Macht Kilicdaroglu das Rennen, würden in der Türkei wieder demokratische Umgangsformen einziehen. Der Oppositionskandidat hat versprochen, das autokratische Präsidialsystem Erdogans abzuwickeln. Der Ministerpräsident soll künftig vom Parlament gewählt und nicht wie bisher vom Quasi-Monarchen ernannt werden. Kilicdaroglu steht zudem für eine Annäherung an Europa und den Westen.

Die Nato-Aufnahme Schwedens will der 74-Jährige sofort besiegeln. In die eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen möchte er neue Bewegung bringen. Problematisch für die EU ist Kilicdaroglus Ankündigung, die 3,5 Millionen syrischen Flüchtlinge binnen zwei Jahren in ihre Heimat zurückzuschicken. Ein Teil der Migranten dürfte sich mangels wirtschaftlicher und politischer Perspektiven auf den Weg in EU-Länder machen.

Wie reagiert die deutsche Politik?

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, Michael Roth (SPD), sagte: „Das ist erstmal für all diejenigen, die sich eine demokratische und rechtsstaatliche Türkei wünschen, ein sehr ernüchterndes Ergebnis.“ Ähnlich äußerte sich Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne). Selbst wenn Oppositionskandidat Kilicdaroglu in der Stichwahl gegen Erdogan gewinnen sollte, werde „er ein zutiefst gespaltenes Land vorfinden“, betonte Özdemir.