Berlin. Erdogan ist stärker als gedacht am Ende der Wahlnacht. Bei der Stichwahl in zwei Wochen könnte er gute Chancen auf den Sieg haben.

Wieder einmal scheint sich das Blatt zugunsten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu wenden. Zwar riss der Staatschef die 50-Prozent-Marke und muss in zwei Wochen in die Stichwahl. Doch es ist ihm gelungen, die positive Dynamik seines Herausforderers Kemal Kilicdaroglu zu brechen. Lesen Sie dazu: Sichwahl zeichnet sich ab – Erdogan gibt sich siegessicher

Der 74-Jährige Hoffnungsträger der Opposition hatte vor dem ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl in den meisten Umfragen die Spitzenposition inne. Es schien, als liege in der Türkei ein Machtwechsel in der Luft. Der Autokrat Erdogan, der seit 20 Jahren an der Macht ist, habe nach Hyper-Inflation und Erdbeben-Missmanagement abgewirtschaftet, dachten und hofften viele im Westen. Es sei Zeit für einen Neuanfang.

Doch Erdogan ist ein mit allen Wassern gewaschener Wahlkämpfer, der immer noch Massen mobilisieren kann. Dabei schreckt er auch vor Schmutzkampagnen nicht zurück. So beschimpfte er seinen Konkurrenten als „Säufer“ und diskreditierte die Opposition als „Terroristen“.

Erdogan könnte Stichwahl aus mehreren Gründe gewinnen

Der Präsident wird in den kommenden knapp zwei Wochen den Super-Populisten geben, der teure Wahlgeschenke wie Gehälter und Pensionen verteilt. Angereichert wird dies mit einer nationalistischen Politik: Erdogan präsentiert die Türkei als globalen Akteur, der die Nato im Falle des Schweden-Beitritts ebenso piesacken kann wie die EU mit einer laxen Grenzkontrolle beim Flüchtlingsthema. Bei vielen seiner Landsleute kommt das an.

Kilicdaroglu hat sich zwar in seinem „Küchen-Wahlkampf“ smart verkauft – er gab sich als bescheidene Alternative zum Prunk-und-Protz-Amtsinhaber Erdogan. Das ist ein modernes Narrativ. Es sollte vor allem Wählerinnen und Wähler ansprechen, die unter der Wirtschaftskrise leiden, die der Präsident zum großen Teil selbst verschuldet hat. So hat Erdogan durchgeboxt, dass die Zentralbank bei hoher Inflation die Zinsen senkt. Nach dem gesunden Menschenverstand wirkt eine Politik des billigen Geldes in dieser Lage erst recht als Brandbeschleuniger und treibt die Preise nach oben. So kam es denn auch.

Parlamentswahl verschafft Erdogan Rückenwind

Kilicdaroglus Manko: Es fehlt ihm an Charisma. Möglicherweise stießen sich konservative Muslime auch an seinem offenen Bekenntnis, der Glaubensrichtung der Aleviten zuzugehören. Die Aleviten fasten nicht an Ramadan und pilgern nicht nach Mekka. Für viele Sunniten mag dies befremdlich sein. Es zeigt aber auch, dass die türkische Gesellschaft in großen Teilen religiös grundiert ist. Erdogans über Jahre hinweg verfolgte schleichende Islamisierung des Landes trägt auch noch im Herbst seiner Karriere Früchte.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent © Reto Klar | Reto Klar

Mehrere Gründe sprechen dafür, dass Erdogan mit deutlichen Vorteilen in die Stichwahl geht. Der dritte Kandidat im Rennen, Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz, hat nun die Rolle des Königsmachers. Er kam auf rund fünf Prozent. Ein Großteil seiner Wählerinnen und Wähler dürften in der Stichwahl für Erdogan stimmen. Ogan setzt kurdenfeindliche Themen und fordert eine strikte Migrationspolitik. Die Schnittmengen mit Erdogan sind groß, auch wenn der 55-jährige Oppositionsmann in der Vergangenheit Front gegen den Präsidenten gemacht hatte.

Darüber hinaus hat Erdogans Regierungskoalition bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen ihre absolute Mehrheit behauptet. Das verschafft dem Staatschef psychologischen Rückenwind und stärkt seine Position für die Stichwahl.

All dies sind Nachteile für Kilicdaroglu. Er braucht ein kleines Wunder, um am 28. Mai doch noch zu triumphieren.

Lesen Sie auch: Heikles Angebot - Putins Söldner-Chef soll ein Verräter sein