Berlin. Die Personallage der Bundeswehr ist dramatisch. Die Wehrbeauftragte Högl macht Vorschläge, wie die Situation verbessert werden kann.

Eva Högl mahnt stetig, dass es der Bundeswehr an Panzern, Booten oder Flugzeugen fehlt. Doch die Wehrbeauftragte des Bundestags sieht ein noch größeres Problem als Gerät und Material: der Personalmangel. Im Interview mit dieser Redaktion beschreibt die SPD-Politikerin, mit welchen Schwierigkeiten die Truppe zu kämpfen hat.

Frau Högl, können Sie jungen Menschen guten Gewissens empfehlen, zur Bundeswehr zu gehen?

Eva Högl: Selbstverständlich. Es ist eine besondere Aufgabe, unseren Frieden, unsere Freiheit und unsere Sicherheit zu vertreten und im Ernstfall auch zu verteidigen.

In Ihrem jüngsten Jahresbericht zeichnen Sie das Bild einer Armee, der es an allem fehlt: persönliche Ausrüstung, großes und kleines Gerät, Personal…

Högl: Das ist der Knackpunkt. Es schreckt ab, wenn die Kasernen in einem schlechten Zustand sind, wenn das Material nicht vorhanden ist für eine ordentliche Ausbildung, für die notwendigen Übungen und die volle Einsatzbereitschaft.

Die Bundeswehr hat viel Material an die Ukraine abgegeben. Wie wirkt sich das auf die Abwehrbereitschaft aus?

Vielen Soldaten fehlt es an persönlicher Ausrüstung.
Vielen Soldaten fehlt es an persönlicher Ausrüstung. © Getty Images | Alexander Koerner

Högl: Das reißt große Löcher in die eigene Einsatzbereitschaft. Die Bundeswehr hat von allem zu wenig und seit Russlands Überfall auf die Ukraine von allem noch weniger. Die Abgabe etwa der 18 Leopard-Panzer bringt das betroffene Panzerbataillon in Augustdorf in eine schwierige Lage. Dort haben sie ohnehin nicht genügend Leopard-Panzer für Ausbildung und Übungen. Auch die Schulungen für ukrainische Soldaten an deutschen Waffen bedeuten einen Kraftakt für die Bundeswehr. Deswegen muss abgegebenes Material zügig wiederbeschafft werden.

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Wo ist es besonders eng?

Högl: Bei der Artillerie, weil wir Panzerhaubitzen abgegeben haben, und bei den Panzern. Haubitzen und Leopard-Panzer werden allerdings nicht so schnell produziert, das dauert etwa zwei Jahre. Deswegen muss jetzt sofort nachbestellt werden. Das hätte im vergangenen Jahr schneller gehen müssen. Aber auch Sanitätsmaterial fehlt an allen Ecken und Enden, weil wir das in großem Umfang an die Ukraine gegeben haben.

Brauchen wir eine Kriegswirtschaft, um die Produktion militärischer Güter zu beschleunigen?

Högl: Ich würde es nicht Kriegswirtschaft nennen. Aber der Gedanke dahinter ist richtig. Mit dem Krieg in Europa haben wir eine besondere Lage. Damit Ausrüstung und Material schneller ersetzt werden können, müssen Rechtsgrundlagen verändert werden. Wir brauchen mehr Ausnahmeregelungen etwa im europäischen Vergaberecht und für die Beschaffung durch die Streitkräfte, um der Situation gerecht zu werden.

Die Ampel-Koalition streitet um den Haushalt. Wie viel Geld benötigt die Truppe zusätzlich?

Högl: Verteidigungsminister Boris Pistorius fordert, den Haushalt um zehn Milliarden Euro aufzustocken. Diese Größenordnung ist absolut richtig. Denn hohe Energiekosten und Inflation betreffen auch die Bundeswehr. Der Kanzler hat sich zum Zwei-Prozent-Ziel der Nato bekannt, das bedeutet ein beständiges Aufwachsen des Verteidigungshaushalts. Ich hoffe, dass sich Boris Pistorius in den Haushaltsverhandlungen damit durchsetzt.

Braucht es ein zweites Sondervermögen für die Bundeswehr?

Högl: Das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro ist viel Geld. Das muss aber schnell investiert werden, damit das Geld in der Truppe ankommt.

Eigentlich soll die Truppe größer werden, aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Der Bundeswehr gehen die Soldaten aus…

Högl: Die Herausforderung beim Personal ist noch größer als beim Material. Das Verteidigungsministerium verfolgt das Ziel, dass die Bundeswehr von aktuell rund 183.000 Soldatinnen und Soldaten auf 203.000 bis zum Jahr 2031 wächst. Ich halte das für nicht erreichbar. Denn im vergangenen Jahr sind die Bewerbungen um elf Prozent zurückgegangen. Die Einstellungen stiegen zwar um zwölf Prozent, aber die Abbrecherquote bei den Rekruten lag bei 21 Prozent. Das ist viel zu hoch.

Eine Panzerhaubitze 2000: Exemplare des Artilleriegeschützes hat die Bundeswehr an die Ukraine abgegeben.
Eine Panzerhaubitze 2000: Exemplare des Artilleriegeschützes hat die Bundeswehr an die Ukraine abgegeben. © dpa | Philipp Schulze

Wieso verlassen so viele Neulinge die Truppe wieder?

Högl: Manche haben falsche Erwartungen, weil sie spannende Videos der Bundeswehr gesehen haben, aber dann gibt es in einem Panzerbataillon nicht ausreichend Panzer oder auf der Stube kein Internet. Die Besten haben Alternativen und wenn es ihnen nicht gefällt, gehen sie zur Polizei oder zum Zoll. Auf einem Arbeitsmarkt, der dringend Leute sucht, ist die Bundeswehr schwer unter Druck. Ein Problem ist es aber, wenn Interessierte sich bewerben und dann ein Jahr lang nichts vom Karrierecenter der Bundeswehr hören. Das können wir uns in keinem einzigen Fall erlauben.

Die Zahl der potenziellen Soldaten ließe sich erhöhen, wenn ein deutscher Pass keine Voraussetzung mehr wäre. Befürworten Sie das?

Högl: Unter dem Eindruck des Krieges in der Ukraine wird die internationale Zusammenarbeit gerade in Europa gerade stark ausgeweitet. Eine gemeinsame Verteidigungspolitik ist also längst keine theoretische Diskussion mehr. Wir haben schon sehr viele integrierte Verbände, gerade wird eine niederländische Brigade der 10. Panzerdivision der Bundeswehr unterstellt. Das ist genau der richtige Weg.

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in einem Leopard-Kampfpanzer.
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in einem Leopard-Kampfpanzer. © dpa | Federico Gambarini

Ausländische Bundeswehrsoldaten sind also kein Tabu?

Högl: Wir haben bereits Soldatinnen und Soldaten mit doppelter Staatsbürgerschaft. Das langfristige Ziel muss eine europäische Armee sein. Bis dahin müssen die bestehenden bi- und multinationalen Kooperationen auf europäischer Ebene weiter vertieft und ausgebaut werden.

Bestätigt der Personalmangel Ihre Einschätzung, dass die Aussetzung der Wehrpflicht ein Fehler war?

Högl: Eine Rückkehr zur Wehrpflicht oder die Einführung eines Gesellschaftsjahres würde die Personalprobleme der Bundeswehr kurzfristig nicht lösen. Es gibt aktuell für Wehrpflichtige keine Kasernen und keine Ausbilder. Das wäre eine langfristige Sache. Aber genau deswegen muss die Debatte jetzt beginnen. In meinen Gesprächen mit der Truppe höre ich, dass die Soldatinnen und Soldaten sich eine Rückkehr zur Wehrpflicht wünschen.

Haben Sie konkrete Vorschläge?

Högl: Ein Jahr für die Gesellschaft in verschiedenen Bereichen als Weiterentwicklung des Bundesfreiwilligendienstes wäre ein Weg. Dabei soll es so viel Freiwilligkeit wie möglich geben, aber das müssen wir diskutieren. Es wäre nicht zeitgemäß, so einen Dienst nur für junge Männer vorzusehen. Wenn wir ein Gesellschaftsjahr einführen würden, müsste das alle Geschlechter einschließen. Es wäre ein guter Beitrag, um die Bundeswehr für die Zukunft gut aufzustellen. Meine Idee ist, in einem ersten Schritt über ein solches „Jahr für Deutschland“ in den Bürgerräten des Deutschen Bundestags unter Beteiligung junger Menschen zu diskutieren. Es wäre toll, wenn die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und die Fraktionen damit die Debatte weiterführen würden.

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