Berlin. Was hat Putin mit Belarus vor? Warum geheime Übernahme-Pläne für den Westen so gefährlich sind und wann es sehr schnell gehen könnte.

Brisante Enthüllung mitten im Ukraine-Krieg: Russland hat neben der Ukraine auch das benachbarte Belarus im Visier. Das von Diktator Alexander Lukaschenko regierte Land könnte nach russischen Plänen bald in einem „Unionsstaat“ vollständig unter Moskauer Kontrolle stehen. Statt auf Krieg setzt Russland im Fall Belarus aber auf eine schleichende Annexion. Das geht aus geheimen Dokumenten der Moskauer Präsidialverwaltung aus dem Jahr 2021 hervor, über die eine Gruppe internationaler Medien am Dienstag berichtete. Geplant ist demnach die politische, wirtschaftliche und militärische Unterwanderung der früheren Sowjetrepublik Weißrussland.

Das Papier, das unter anderem die „Süddeutsche Zeitung“ und Medien in Osteuropa ausgewertet haben, listet detailliert das Vorgehen in drei Etappen bis 2030 auf. Demnach sollen prorussische Gruppen in der belarussischen Politik, im Militär und in der Wirtschaftselite unterstützt werden, die russische Militärpräsenz ausgeweitet werden. Am Ende gäbe es nur noch eine militärische Führung und eine einheitliche Verteidigungspolitik.

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Für die Nato eine neue, massive Bedrohung: Russische Truppen würden auf über tausend Kilometern direkt an die Nato-Ostgrenze von Polen und Litauen vorrücken, auch an die strategisch wichtige „Suwalki-Lücke“, die schmale Landzunge zwischen Polen und dem Baltikum. In der Nato ist über ein solches Szenario nach Informationen unserer Redaktion bereits intensiv beraten worden, als Konsequenz würde die westliche Militärpräsenz an der Ostgrenze dann massiv aufgestockt.

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Sogar eine einheitliche Währung planen die Kreml-Strategen

Alles in allem würde Präsident Wladimir Putin mit Zwang, aber ohne Krieg einen Teil Großrusslands wiederherstellen: Zentral ist laut Plan die „Sicherstellung des vorherrschenden Einflusses der Russischen Föderation in den Bereichen Gesellschaftspolitik, Handel, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung und Kultur“. Zur Förderung einer prorussischen Einstellung solle die Kontrolle über die Medien in Belarus sichergestellt und die dominierende Stellung der russischen Sprache erreicht werden. Gedacht ist an Wissenschafts- und Kulturzentren für mehr kulturelle Präsenz und ein Netzwerk moskaufreundlicher Organisationen.

Wirtschaftlich würden zunächst alle Handelsbarrieren abgebaut, Gesetze vereinheitlich, die Frachttransporte nicht mehr über Polen oder das Baltikum, sondern nur noch über russische Häfen abgewickelt; später käme ein gemeinsames Energie- und Kommunikationssystem hinzu und sogar eine einheitliche Währung.

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Das Papier soll von Osteuropa-Experten aus der Präsidialverwaltung des Kreml gemeinsam mit Geheimdienst-Mitarbeitern verfasst worden sein. Westliche Geheimdienste halten das 17-seitige Dokument den Berichten zufolge für echt. Es stammt aus dem Herbst 2021 – also einige Monate vor dem Überfall auf die Ukraine und ein Jahr nach der Niederschlagung von Protesten in Belarus gegen die gefälschten Präsidentschaftswahlen. Putin hatte Diktator Lukaschenko während der Proteste unterstützt und ihm so das politische Überleben gesichert, doch schien durch die Abhängigkeit von Moskau die nationale Souveränität von Belarus ernsthaft in Frage zu stehen.

Die Lage hat sich inzwischen geändert: „Ein Jahr nach Kriegsbeginn wirkt Lukaschenkos Regime deutlich gefestigter“, erklärt Osteuropa-Expertin Margarete Klein in einer aktuellen Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die Bundesregierung berät. Der Präsident kontrolliere vollständig die innenpolitische Situation und baue erfolgreich das politische System um. Lukaschenko hat allen Versuchen Putins, ihn in eine Kriegsbeteiligung zu drängen, abgewehrt, auch weil er dann Widerstand der Bevölkerung und der Streitkräfte befürchten müsste. Er stellt sein Land aber als Aufmarschgebiet zur Verfügung, lässt in Belarus russische Soldaten ausbilden und russische Militärtechnik reparieren. Putin brauche seine Unterstützung, betont Klein.

Osteuropa-Expertin: Greift Putin nach Belarus, wenn Niederlage in der Ukraine droht?

Doch das Blatt kann sich schnell wenden, Moskaus geheime Übernahme-Pläne könnten dann vielleicht sogar noch schneller umgesetzt als gedacht. „Je erfolgreicher die Ukraine militärisch ist, desto schwieriger wird die Situation für Lukaschenko“, so Klein. „Moskau könnte ihn doch noch zur aktiven Kriegsbeteiligung zwingen oder den Anschluss von Belarus an Russland als Kompensation für eine drohende Niederlage anstreben.“ Und ein Sieg Putins würde ihn „vollends der Willkür des Kreml ausliefern.“

Die Idee eines Unionsstaats ist nicht neu, eine enge Verflechtung wurde schon in den 90er Jahren zwischen Lukaschenko und dem damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin vereinbart. Doch hat der Minsker Diktator stets darauf geachtet, sich seine Unabhängigkeit zu bewahren. Die belarussische Oppositionspolitikerin Svetlana Tsikhanovskaya, die inzwischen im litauischen Exil lebt, sagt: „Der Unionsstaat ist eine Bedrohung für das belarussische Volk und die belarussische Staatlichkeit. Das ist kein Zusammenschluss von Gleichen. Es ist ein Fahrplan für die Übernahme von Belarus durch Russland.“ Auch interessant: Putins privater Panzer-Zug hat ein eigenes Schienennetzwerk

Auch die Kreml-Strategen sind sich deshalb ihrer Sache nicht so sicher: Sie warnen vor dem möglichen Einfluss prowestlicher oder nationalistischer Politiker im Umfeld Lukaschenkos. Belarus könnte sich doch wieder für EU und Nato öffnen, die Wirtschaft sich nach Westen oder nach China orientieren, heißt es in dem Papier. Gegen das Risiko, dass Belarus die schleichende Annexion torpediert, soll ein schon im Donbass erprobtes Mittel helfen: Moskau soll russische Pässe an belarussische Staatsbürger ausgeben.