Berlin. Der Lebensstandard der Briten sinkt rasant. Die Armut vertieft sich. An den Essensausgaben bilden sich lange Schlangen. Wie kommt das?

Carly ist 34 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern und hoch verschuldet. Sehr hoch sogar: Mit rund 20.000 Pfund steht sie bei verschiedenen Geldgebern in der Kreide – nicht etwa, weil sie sich irgendwelche Extravaganzen geleistet hat, sondern weil sie schlichtweg Mühe hat, ihre täglichen Ausgaben zu bewältigen. „Ich verdiene jeden Monat rund 700 Pfund“, sagt Carly in einem Fernsehinterview. „Mein Kontostand liegt bei etwa 43 Pence.“ Jetzt muss sie sich in Lebensmittelausgaben mit Essen eindecken – eine neue und niederschmetternde Erfahrung. „Ich war bislang noch nie in der Situation, dass ich mir wegen dem Essen Sorgen machen musste!“ sagt sie.

Es gibt in Großbritannien hunderttausende Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind wie Carly. Laut offiziellen Statistiken lebten bereits im letzten Jahr über 13 Millionen Britinnen und Briten in Armut, rund 4 Millionen waren bei Rechnungen für Strom, Gas oder Gemeindesteuer in Zahlungsrückstand geraten. Aber seither ist alles nur noch schlimmer geworden: Im Lauf der letzten 12 Monaten sind die Kosten für Strom, Gas und Lebensmittel dramatisch angestiegen, und der Lebensstandard der Briten ist so schnell gesunken wie zuletzt seit sechs Jahrzehnten – um mehr als 7 Prozent, laut einer Analyse des Forschungsinstituts Office for Budget Responsibility.

Großbritannien: Vielen geht das Geld für Strom, Gas und Lebensmittel aus

Die Stiftung Resolution Foundation erwartet, dass Inflation und steigende Energiekosten in diesem Winter weitere 1,3 Millionen Briten in die Armut stürzen werden. Bereits jetzt ist die Situation für viele prekär. In der britischen Presse liest man von einer zunehmenden Zahl von Leuten, die regelmäßig Mahlzeiten auslassen, weil ihnen das Geld fehlt – die jährliche Rechnung für Lebensmittel ist laut Studien um fast 800 Pfund angestiegen.

Essensausgaben im ganzen Land berichten, dass sie in diesen Monaten geradezu überrannt werden. Manche Briten versuchen, ihre Kosten für Strom und Gas gering zu halten, indem sie bei Kerzenlicht essen oder gar nicht mehr kochen. Andere bereiten ihre Speisen auf wegwerfbaren Barbecues zu, damit sie den Ofen nicht anmachen müssen. Und viele verschulden sich, wie Carly, bei skrupellosen Kredithaien, die exorbitante Zinsen verrechnen.

Der Reichtum ist in Großbritannien sehr ungleich verteilt

Dieser Winter ist besonders schlimm für die Briten, aber Armut ist hier seit vielen Jahren ein wachsendes Problem – und die Gesellschaft ist weit ärmer, als ein erster Blick vermuten lässt. Gemessen an der Wirtschaftsleistung mag Großbritannien zwar die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt sein, aber der Reichtum ist sehr ungleich verteilt.

Die Financial Times hat vor einigen Monaten einen Landesvergleich angestellt, der verdeutlicht, was für ein Ausmaß die Ungleichheit in der britischen Gesellschaft erreicht hat. Demnach haben die reichsten Briten einen ähnlich hohen Lebensstandard wie gut betuchte Deutsche oder Norweger.

Bei den ärmsten fünf Prozent jedoch sieht es ganz anders aus: Die Briten am untersten Ende der Einkommensskala sind deutlich ärmer als der Durchschnitt der Industriestaaten. Im Vergleich zu den ärmsten Sloweninnen und Slowenen zum Beispiel haben die bedürftigsten Briten einen rund 20 Prozent geringeren Lebensstandard. „Großbritannien ist eine arme Gesellschaft, in der es Inseln mit sehr reichen Leuten gibt“, lautet das Fazit der Financial Times – in dieser Hinsicht sei das Land ähnlich wie die USA.

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Gewerkschaften rufen zu Streiks auf

Insbesondere in London liegen Arm und Reich oft sehr nahe beieinander. In den bombastischen Glastürmen des Finanzdistrikts Canary Wharf, im Osten der Metropole, zahlen Gutbetuchte für eine 3-Zimmerwohnung schnell mal 6000 Euro im Monat. Nur wenige hundert Meter weiter nördlich liegen Quartiere, die zu den mittellosesten im ganze Land zählen. Mehr als die Hälfte der Kinder in diesem Stadtbezirk wachsen in Armut auf.

Kaum verwunderlich, dass Großbritannien derzeit von der größten Streikwelle seit Jahrzehnten geschüttelt wird: Gewerkschaften warnen, dass selbst Leute mit festen Jobs, etwa Krankenpfleger, oft Gassenküchen und Essensausgaben aufsuchen, weil ihr Lohn schlichtweg nicht reicht, um über die Runden zu kommen. Selbst Leute aus der Mittelschicht sind zunehmend betroffen von der Krise der Lebenshaltungskosten – man liest etwa von Bankern, die aufgrund der hohen Zinssätze Mühe haben, an erschwingliche Hypotheken zu kommen.

Immer wieder kommt es in Großbritannien zu Streikwellen – wie hier bei einem Streik von Lehrerinnen und Lehrern.
Immer wieder kommt es in Großbritannien zu Streikwellen – wie hier bei einem Streik von Lehrerinnen und Lehrern. © AFP | JUSTIN TALLIS

Superreiche haben massiv profitiert

Manche Briten jedoch sind von solchen Problemen nicht im Geringsten betroffen: Die reichsten Bürger haben einige gute Jahre hinter sich. Seit Beginn der Covid-Pandemie hat die Zahl der britischen Milliardäre um ein Fünftel zugenommen, so eine Studie der Stiftung Equality Trust. Ein Boom der Immobilien- und Aktienmärkte habe eine regelrechte „Explosion des Milliardärs-Reichtums“ ausgelöst. Nirgendwo in Europa leben so viele Superreiche wie in der britischen Hauptstadt.

Allerdings sind es deutlich weniger als noch vor ein paar Jahren – seit einiger Zeit kehren immer mehr reiche Leute der Insel den Rücken. Das Beratungsunternehmen Henley Partners meldete vor einigen Wochen, dass im Jahr 2022 rund 1400 Millionäre aus Großbritannien abreisten. Viele sind offenbar Banker, die ihren Arbeitsplatz nach Kontinentaleuropa verlegt haben. Das sei nicht zuletzt dem Brexit geschuldet, schreibt die Londoner Wirtschaftszeitung „City A.M.“: „Nach dem Brexit überlegen sich viele Reiche, ob es weiterhin geschäftlichen Sinn ergibt, hier zu bleiben.“