Prag. In Prag haben 44 Staaten die neue Europäische Politische Gemeinschaft gegründet. Was dahinter steckt, was das Treffen so heikel macht.
Hier hat eine europäische Katastrophe begonnen: Aus einem Fenster der Prager Burg wurden einst zwei Statthalter des Habsburger-Kaisers Rudolf II. geworfen, der „Prager Fenstersturz“ löste 1618 den Dreißigjährigen Krieg aus. Rund 400 Jahre später findet auf der Prager Burg wieder ein Ereignis statt, das einmal in die Geschichtsbücher eingehen könnte: 44 Staats- und Regierungschefs Europas treffen sich hoch über der Moldau zum ersten Gipfel einer neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG), der Krieg in der Ukraine hat sie mobilisiert.
„Diese Gemeinschaft kann den Frieden in Europa wiederherstellen“, lobt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Video-Grußbotschaft. Kanzler Olaf Scholz (SPD) spricht von einer „großen Innovation“. Ratspräsident Charles Michel, der zusammen mit dem tschechischen Premier Petr Fiala eingeladen hatte, sagt, angesichts des Ukraine-Kriegs für Europa werde die neue Gemeinschaft „mit dem Ziel gegründet, Länder auf dem Kontinent zusammenzubringen und eine Plattform für politische Koordinierung zu bieten“. Michel betont, der Gründungsgipfel sei ein Zeichen der Geschlossenheit gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Und der französische Präsident Emmanuel Macron erklärt seinen 43 Kollegen: „Wir teilen ein gemeinsames Umfeld, oft eine gemeinsame Geschichte, und wir sind dazu berufen, unsere Zukunft gemeinsam zu schreiben“.
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Die neue Gemeinschaft war eine Idee von Macron
Macron hatte die neue Gemeinschaft erst im Mai vorgeschlagen und sich dabei auf Ideen einer europäischen Föderation bezogen, die vor drei Jahrzehnten der damalige Präsident Francois Mitterrand entwickelt hatte. Das Ergebnis ist in Prag ein erster Mega-Gipfel in explosiver Mischung. Zu den 27 EU-Regierungschefs kommen die Spitzen von 17 Nachbarstaaten. Es treffen sich nicht nur selbstbewusste Ego-Europäer, sondern auch Führer verfeindeter Staaten.
Ein Experiment, schon wegen der Sitzordnung: „Es ist wie bei einer großen Hochzeit, wo viele unangenehme Onkel und Tanten irgendwie berücksichtigt werden müssen“, beschreibt ein EU-Diplomat die Aufgabe. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist der Einladung ebenso gefolgt wie die britische Premierministerin Liz Truss und der ukrainische Regierungschef Denys Schmyhal; dabei sind auch die Schweiz, Norwegen, Island, Liechtenstein, Moldau, Georgien, Armenien, Aserbeidschan sowie die sechs Westbalkan-Staaten Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, Albanien, Bosnien-Herzegowina und das Kosovo.
Die Atmosphäre in der Prager Burg ist damit anfangs geladen: In der Ukraine herrscht Krieg, Armenien und Aserbeidschan standen verfeindet gerade kurz vor einem neuen Krieg, die Türkei droht Griechenland und Zypern mit Waffengewalt. Und Premierministerin Truss reist nach einigem Zögern mit klaren Forderungen nach Prag. Die Gemeinschaft dürfe keine „Laberrunde“ sein, erklärt sie. Im Umfeld von Truss heißt es, der Club dürfe Nato oder G7 nicht in die Quere kommen, es dürften keine Institutionen geschaffen werden und Nicht-EU-Staaten müssten genügend Einfluss bekommen: „Wir werden sehen, ob sich das realisiert“. Große Vorsicht herrscht deshalb unter den EU-Gastgebern.
Bloß kein Ärger zum Anfang, heißt die Devise. Um jede Missstimmung zu vermeiden, dauert das große Plenum nur eine Stunde. Dann diskutieren die Teilnehmer in kleineren Formaten; vier parallele Runden sind dafür vorgesehen, sodass sich missliebige Begegnungen sicher vermeiden lassen. Danach gibt es zwei Stunden Gelegenheit für bilaterale Treffen und zum Abschluss ein Dinner. Um niemanden zu überfordern, ist weder ein Gründungsdokument noch eine Abschlusserklärung geplant.
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Europäische Politische Gemeinschaft: McAllister warnt vor Doppelstrukturen
Doch der Gipfel verläuft entspannter als erwartet: So lassen sich etwa die Präsidenten Armeniens und Aserbeidschan beim höflichen Plausch beobachten, Erdogan sitzt dabei. EU-Regierungschefs geben sich große Mühe, gerade diese Formlosigkeit als Vorteil zu loben. Kanzler Scholz sagt, in diesem Forum könnten sich Regierungschefs ohne Tagesordnung oder Beschlusszwang regelmäßig besprechen könnten. „Es lebt davon, dass viele zusammenkommen“, sagt Scholz. Das soll künftig mindestens zweimal Jahr der Fall sein, das nächste Treffen wird wohl in der Republik Moldau stattfinden. Wie es weitergeht, ist offen. Mehrere EU-Regierungschefs erklärten zur Beruhigung der misstrauischen Beitrittskandidaten, die Gemeinschaft sei nicht als Ersatz für eine EU-Mitgliedschaft gedacht. Macron andererseits führt das Lager jener an, die die EPG mindestens als längere, womöglich auch jahrzehntelange Zwischenlösung für EU-Anwärter sehen.
Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des EU-Parlaments, David McAllister (CDU), meint, die Gemeinschaft könnte sich möglicherweise zu einem Forum entwickeln, um die Zusammenarbeit mit den Nachbarn in Europa zu intensivieren. „Die geopolitische Zeitenwende auf unserem Kontinent erfordert den Zusammenhalt zu stärken, unabhängig vom Verhältnis zur EU“, sagte McAllister unserer Redaktion. Ein strategischer Austausch über die Außen- und Sicherheitspolitik der 44 Staaten sei geboten, um Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Doch stellt der Chef-Außenpolitiker des Parlaments klar: „Diese Plattform darf keine Alternative zum EU-Erweiterungsprozess sein, noch die Absicht verfolgen, bestehende Institutionen wie die NATO zu duplizieren.“
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