Brüssel/Prag. In der EU herrscht Streit um Visavergabe für Russen. Moskau droht – Kanzler Scholz verhindert ein Einreiseverbot. So geht es weiter.

Trotz des Ukraine-Kriegs und der europäischen Sanktionen gegen Moskau reisen immer noch Tausende Russen täglich legal in die Europäische Union ein. Seit die EU Direktflüge aus Russland in die Union verboten hat, kommen sie über den Landweg nach Finnland, ins Baltikum und nach Polen – und reisen von dort aus weiter, meist mit dem Flugzeug.

Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur Frontex haben seit Beginn des Ukraine-Kriegs fast eine Million Russen auf diese Weise die EU-Grenze passiert – mit einem meist für die gesamte Schengen-Zone gültigen Touristenvisum, aber auch mit Aufenthaltserlaubnissen oder doppelter Staatsbürgerschaft.

Wenn es nach dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geht, ist damit jetzt Schluss: Die Europäische Union müsse ihre Grenzen für russischen Bürger dichtmachen, fordert Selenskyj seit Wochen. Russland sei ein „Terrorstaat“, so müssten auch seine Bürger behandelt werden.

Doch obwohl Selenskyj starke Unterstützung von den betroffenen Ländern an der östlichen EU-Grenze erfährt, ist er mit seiner Forderung vorerst gescheitert: Russische Staatsbürger dürfen wohl weiter in die Union reisen – es wird ihnen künftig allerdings schwerer gemacht. Das zeichnete sich am Dienstag zum Auftakt eines EU-Außenministertreffens in Prag ab, bei dem über eine Visasperre beraten werden sollte.

Streit um Einreiseverbot in die EU: Russland droht mit Konsequenzen

Unmittelbar zuvor hatten sich Deutschland und Frankreich in einem Positionspapier gemeinsam gegen ein weitgehendes Einreiseverbot ausgesprochen. Obwohl damit klar war, dass sich Befürworter nicht durchsetzen würden, drohte die russische Regierung kurz vor den Beratungen Konsequenzen an, sollte das Verbot beschlossen werden: Russland werde eine solche „sehr ernste“ Entscheidung nicht unbeantwortet lassen und die Interessen seiner Bürger schützen.

Die Enttäuschung in Finnland, in den baltischen Staaten und in Polen ist auf der anderen Seite groß. Diese Länder spüren das veränderte Reiseverhalten der russischen Nachbarn besonders. Rund um ihre Flughäfen stehen nun ungewöhnlich viele russische Fahrzeuge auch der Luxusklasse, deren Besitzer in Europa unterwegs im entspannten Urlaub oder zu Geschäftsreisen sind.

„Es ist nicht richtig, dass Russen ein normales Leben führen, in Europa reisen und Touristen sein können, während Russland einen brutalen Angriffskrieg in Europa führt“, klagt etwa Finnlands Regierungschefin Sanna Marin.

Darum sind Deutschland und Frankreich gegen ein Einreiseverbot für Russen

Die estnische Premierministerin Kaja Kallas meint: „Selbst in Autokratien sind Bürger noch verantwortlich für die Taten ihres Landes.“ Eine Visasperre treffe Russland, nicht aber die EU, wirbt Kallas für den harten Schnitt, den auch Dänemark und Tschechien unterstützen. Nicht nur ihre Regierung hat längst beschlossen, keine oder kaum noch neue Visa für Russen auszustellen und alte nicht mehr anzuerkennen.

Doch weil Polen, Balten und Finnen dem Schengen-Raum angehören, können Russen in der Regel auch mit Visa anderer EU-Staaten bei ihnen einreisen und dann bis zu 90 Tage quer durch Europa touren – der Schengen-Raum umfasst 22 der 27 EU-Länder, dazu Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Deutschland und Frankreich haben früh gebremst und sich nun klar gegen ein Einreiseverbot positioniert. Ein genereller Visa-Bann für Russen würde auch „ganz Unschuldige“ treffen, warnte Kanzler Olaf Scholz (SPD) Anfang der Woche. In dem gemeinsamen Positionspapier erklären Berlin und Paris: „Wir sollten über kluge Wege nachdenken, um den wichtigen Hebel der Visaerteilung zu nutzen.“

Der Einfluss, der von der unmittelbaren Erfahrung des Lebens in Demokratien ausgehen könne, dürfe nicht unterschätzt werden. Dies beziehe sich insbesondere auf künftige Generationen. „Unsere Visapolitik sollte dies widerspiegeln und weiterhin in der EU zwischenmenschliche Kontakte zu russischen Staatsangehörigen ermöglichen, die nicht mit der russischen Regierung in Verbindung stehen“.

Auch der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg mahnt, mit einem allgemeinen Visa-Stopp seien kaum noch Kontakte zur Zivilgesellschaft möglich.

Außenminister: Visaerleichterungen für Russen werden wohl ausgesetzt

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hatte früh erklärt, es sei „keine gute Idee“, Russen unterschiedslos die Einreise zu verwehren. Doch deutete Borrell mit der Forderung, die EU müsse selektiver werden, auch schon den Weg zum Kompromiss an. Denn jetzt wird beraten darüber, zumindest die bisherigen Visa-Erleichterungen für Russen abzuschaffen. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sprach sich am Dienstag für diesen Schritt aus.

Ein entsprechendes Abkommen von 2007 war zu Beginn des Ukraine-Kriegs bereits für Geschäftsreisende und offizielle Delegationen ausgesetzt worden, jetzt soll es für alle beendet werden. Die Wirkung für die Antragsteller beschreibt ein EU-Diplomat so: „Mehr Dokumente, höhere Kosten, längere Wartezeit“.

Diskutiert wird auch, mehr russische Bürger gezielt auf eine Sanktionsliste mit Einreiseverboten und Vermögenssperren zu setzen. Zu den rund 1200 bisher erfassten Personen – Putin und seine Vertrauten, Abgeordnete, Sicherheitsbeamte, Oligarchen – könnten so weitere 6000 kommen.

Ob der Streit innerhalb der EU damit beendet wird, ist offen. Wahrscheinlicher ist nach Einschätzung von EU-Diplomaten, dass der Konflikt bei einem der nächsten Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs wieder aufflammt: Wenn Brüssel im Winter nach neuen Sanktionsmöglichkeiten suche, sei das weitgehende Einreiseverbot für Russen eine Option.

Dieser Text erschien zuerst auf morgenpost.de

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