Berlin. Der ukrainische Präsidentenberater Alexander Rodnyansky begrüßt die neue Waffenlieferungen – und sorgt sich über „Kriegsmüdigkeit“.

Alexander Rodnyansky ist von Haus aus Wirtschaftsprofessor an der renommierten Universität Cambridge. Seit 2020 berät er den ukrainischem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Im Interview mit unserer Redaktion spricht der 37-Jährige über den Krieg, die Waffenlieferungen und den Wiederaufbau.

Wo steht die Ukraine sechs Monate nach Kriegsbeginn?

Alexander Rodnyansky: Wir befinden uns heute mitten in einem Zermürbungskrieg. Keine Seite erzielt große Geländegewinne. Nachdem Putins Ziel eines Blitzkrieges gescheitert ist, hat Russland seine Strategie angepasst. Moskau setzt nun auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Ukraine. Unsere Finanzsituation hat sich dramatisch verschlechtert: Die Neuverschuldung ist auf 22 bis 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angestiegen.

Alexander Rodnyansky, Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Alexander Rodnyansky, Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. © picture alliance/dpa/WDR | Oliver Ziebe

In Europa schnellen die Gaspreise nach oben, die wirtschaftlichen Aussichten trüben sich ein. Befürchten Sie, dass der Westen kriegsmüde wird?

Alexander Rodnyansky: Wir beobachten das mit Sorge. Im Westen gibt es eine stärkere Kriegsmüdigkeit als in der Ukraine. Viele Menschen wünschen sich eine Rückkehr zur Normalität. Es entsteht die Erwartung, eine Einigung mit Russland zu finden – nicht unbedingt zugunsten der Ukraine. Die russische Seite baut darauf, dass dieser Druck stärker wird. Hinzu kommt, dass Moskau mit der Warnung vor einer nuklearen Katastrophe im Atomkraftwerk Saporischschja dem Westen Angst machen will. Das Ziel: Die Ukraine soll Territorium abgeben.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat neue Waffenlieferungen an die Ukraine in Höhe von mehr als 500 Millionen Euro angekündigt. Reicht das?

Alexander Rodnyansky: Es ist eine gute Nachricht. Wir sind dafür dankbar. Es reicht allerdings nicht, um die Russen zurückzuschlagen. An einigen Frontabschnitten sind wir bei der Technik im Verhältnis 1 zu 15 unterlegen. Die Waffen, die wir aus Deutschland bekommen, sind sehr gut. Die jetzt versprochenen Flugabwehrsysteme vom Typ Iris-T sind hochmodern und gehören zu den besten der Welt. Uns wurden drei Systeme zugesagt, wir bräuchten aber Dutzende davon. Generell könnten die Waffen schneller geliefert werden.

Die Sanktionen des Westens haben Russlands Kriegs-Aktivitäten nicht gebremst. Wann schlagen sie voll durch?

Alexander Rodnyansky: Die Sanktionen im Energiebereich sind noch nicht scharf genug. Der Westen hat noch immer keine Strafzölle auf den Import von russischem Öl und Gas verhängt. Bei den jetzigen Energiepreisen kann Russland seinen Krieg ohne Probleme finanzieren. Die Hightech-Sanktionen des Westens wirken aber bereits. So ist die Auto-Produktion in Russland fast zu einem kompletten Stillstand gekommen, weil wichtige Zulieferteile aus dem Westen fehlen.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

podcast-image

Wann sollte mit dem Wiederaufbau der Ukraine begonnen werden?

Alexander Rodnyansky: Die Ukraine ist gerade dabei, eine Agentur für den Wiederaufbau einzurichten. Man kann jedoch das Land nicht im großen Stil wiederaufbauen, solange der Krieg weiterläuft. Aber die Ukraine kann schon jetzt damit beginnen, ihre Institutionen zu stärken und die Integrations-Prozesse mit der EU zu beschleunigen. Auch könnte damit angefangen werden, die rund 3300 Staatsunternehmen zu privatisieren.

Was bräuchte die Ukraine an finanzieller Unterstützung vom Westen?

Alexander Rodnyansky: Insgesamt werden die Kosten für den Wiederaufbau auf rund 750 Milliarden Dollar geschätzt. Dieses Projekt wird viele Jahre dauern und muss nicht komplett von der internationalen Gemeinschaft bezahlt werden. Das Wirtschaftswachstum wird einen Teil der nötigen Gelder freisetzen. Derzeit fehlen dem ukrainischen Staatshaushalt etwa fünf Milliarden Dollar pro Monat. Wenn wir die Hälfte davon aus internationalen Quellen bekämen, wäre das ein großer Schritt. Die Mittel müssten aber rechtzeitig eintreffen, um eine für die Wirtschaft gefährliche Währungskrise zu vermeiden.

Welche Projekte haben Vorrang?

Alexander Rodnyansky: Die dringendsten Vorhaben sind der Wiederaufbau der zerstörten Wohnhäuser, die Sicherung der Energielieferungen an Verbraucher und Firmen. Allein die Wiederherstellung der Infrastruktur kostet rund 110 Milliarden Dollar.

Was erwarten Sie von Deutschland?

Alexander Rodnyansky: Wir hoffen, dass Deutschland und die EU einen beträchtlichen finanziellen Beitrag zum Wiederaufbau leisten. Und wir würden uns wünschen, dass deutsche Unternehmen in der Ukraine investieren und produzieren.

Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.