Berlin. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil spricht im Interview über den Arbeitsmarkt, höheren Mindestlohn, die GroKo und den Zustand der SPD.

Auf dem Regal im Büro von Hubertus Heil stehen zwei alte Fotos, die ihm wichtig sind: Auf dem einen stecken SPD-Urgestein Egon Bahr und Heil die Köpfe zusammen. Das andere zeigt Altkanzler Helmut Schmidt am Rednerpult auf dem Evangelischen Kirchentag 1979 in Nürnberg. Vor dem Pult auf dem Boden liegend: Hubertus Heil, damals sechs Jahre alt.

Er sei schon früh sozialdemokratisch sozialisiert worden, lacht Heil. Mit 16 trat er in die SPD ein. Umso mehr schmerzt den Bundesarbeitsminister jetzt die aktuelle Lage seiner Partei.

Herr Heil, wie sicher sind Sie, dass Sie Weihnachten noch im Amt sind?

Hubertus Heil: Ich denke über solche Fragen nicht nach. Ich mache meine Arbeit. Die macht mir viel Freude, weil ich mithelfen kann, unser Land voranzubringen.

Aber was bedeutet es für die GroKo, wenn Angela Merkel nach dem Parteitag Anfang Dezember nicht mehr CDU-Chefin sein wird?

Heil: Wie die CDU ihren Parteivorsitz neu besetzt, ist erst mal ihre Sache. Aber wir sind nicht naiv. Eine neue CDU-Führung muss in jedem Fall unter Beweis stellen, dass sie den Erfolg dieser Regierung will und sich an den Koalitionsvertrag hält.

Die SPD würde auch ohne Angela Merkel in der Koalition weiterarbeiten?

Heil: Formal ist der Koalitionsvertrag nicht an bestimmte Personen gebunden. Er wurde zwischen drei Parteien geschlossen. Die SPD steht dazu. Wir werden sehen, wie verlässlich die CDU mit der neuen Führung ist. Wir hören genau hin, was die Kandidaten sagen. Ich habe Herrn Merz noch im Bundestag erlebt und weiß, welche Positionen er damals vertreten hat. Er hat kein übergroßes soziales Herz und ist kein Vertreter des deutschen Sozialstaatsmodells.

Wie ernst nehmen Sie Forderungen aus Ihrer Partei, die Koalition zu verlassen?

Heil: Taktische Spielchen zwischen Parteien interessieren die Leute nicht. Ich arbeite dafür, dass wir den Alltag der Menschen verbessern und dafür sorgen, dass unser Land stark bleibt. Die Regierung wird halten, wenn alle Parteien den gemeinsamen Erfolg wirklich wollen und sich an den Koalitionsvertrag halten.

Hubertus Heil, Bundesarbeitsminister, im Interview mit Jörg Quoos (r.), Chefredakteur der Funke Zentralredaktion, und Philipp Neumann (l.).
Hubertus Heil, Bundesarbeitsminister, im Interview mit Jörg Quoos (r.), Chefredakteur der Funke Zentralredaktion, und Philipp Neumann (l.). © Amin Akhtar | Amin Akhtar

Bei den Wahlen in Bayern und Hessen ist die SPD abgestürzt. Warum?

Heil: Die SPD muss entschlossener auftreten und klarer Orientierung geben. Es gilt, deutlicher gesellschaftliche Fehlentwicklungen anzusprechen. Vertrauen gewinnen wir aber nur, wenn wir die Probleme auch lösen. Dafür müssen wir die realistische Zuversicht ausstrahlen, dass wir das auch schaffen. Wenn wir die Welt immer nur kurz vor dem Untergang sehen, dann traut uns keiner zu, dass wir sie retten können.

Sind die Grünen, an die die SPD viele Wähler verloren hat, optimistischer?

Heil: Sie strahlen mehr Zuversicht aus. Davon können wir lernen. Aber wir sollten die Grünen nicht kopieren. Die SPD hat inhaltlich nach wie vor einen breiteren gesellschaftspolitischen Anspruch als die Grünen.

Viele Wähler sagen, die SPD stehe nicht mehr für soziale Gerechtigkeit. Wie konnte das passieren?

Heil: Mehr soziale Gerechtigkeit gibt es nur mit einer starken SPD. Wenn es um bessere Renten, bessere Löhne, gerechtere Bildungschancen und soziale Wohnungsbaupolitik geht, erlebe ich eine hohe Zustimmung zu den Positionen der SPD. Viele Menschen trauen uns aber offensichtlich zu wenig zu, dass wir diese Ziele auch umsetzen. Deshalb müssen wir durch Taten überzeugen.

In Niedersachsen oder in Rheinland-Pfalz etwa hat die SPD Wahlen gewonnen, weil das Zutrauen vorhanden war. Dort haben die Menschen konkret gespürt, dass die SPD ihr Leben verbessert. Das muss die Gesamtpartei auch hinbekommen.

„Es muss sich in der SPD etwas ändern“, sagt Parteichefin Andrea Nahles. Was meint sie?

Heil: Die SPD wird zügig inhaltliche Fragen klären, in denen wir nicht klar genug erkennbar sind. Aber sie muss die Entschlossenheit ausstrahlen, die Dinge anzugehen, die jetzt in unserem Land verändert werden müssen. Eine Partei, die nur um sich selbst kreist, darf sich über mangelnden Zuspruch nicht wundern. Die SPD muss unserem Land Orientierung und Zuversicht geben.

Ist das ein Hinweis an die Vorsitzende?

Heil: Nein, ich meine keine einzelne Person, sondern die Körpersprache der ganzen Partei. Wir müssen deutlich machen, dass wir konkret Dinge voranbringen. Dieses Land ist stark, aber es geht nicht allen Menschen gut. Unsere Aufgabe ist es, den Erfolg des Landes und den sozialen Zusammenhalt zu sichern.

Regiert sich die SPD in der großen Koalition zu Tode?

Heil: Ich empfinde Regierungsverantwortung nicht als Last, sondern als Gestaltungsmöglichkeit. Ich will, dass unsere sozialdemokratische Überzeugung in der Regierungsarbeit auch klar erkennbar ist.

Deutschland geht es so gut wie lange nicht. Schlechte Zeiten für Sozialpolitik?

Heil: Es gibt derzeit aufgrund der guten Arbeitsmarktzahlen zum Glück keine Angst vor Massenarbeitslosigkeit. Aber die Angst vor dem sozialen Abstieg ist riesig und kriecht bis in die Mitte der Gesellschaft. Mein Eindruck ist: Auch Leute, denen es gut geht, sind verunsichert. Rechte Populisten schlagen daraus Kapital und spalten die Gesellschaft, anstatt Probleme zu lösen.

Wie entwickelt sich denn der Arbeitsmarkt?

Heil: Es sieht gut aus. In den nächsten sieben Jahren werden nach aktuellen Berechnungen von Wissenschaftlern durch technischen Fortschritt in Deutschland im Vergleich zu heute zwar 1,3 Millionen Arbeitsplätze wegfallen. Es entstehen aber auch 2,1 Millionen neue Jobs. Uns geht die Arbeit nicht aus, aber es wird andere Arbeit sein.

Bis 2035 sehen die Prognosen – und es sind wirklich nur Prognosen – aber wieder ganz anders aus: Auf 3,3 Millionen neue Jobs kommen vier Millionen, die verschwinden. Jetzt geht es darum, dass die Arbeitnehmer von heute auch die Arbeit von morgen machen können. Qualifizierung, Weiterbildung, Umschulung – darum kümmern wir uns. Es geht um Sicherheit in Zeiten des Wandels.

Finanzminister Scholz hat teilweise Ihren Job übernommen und macht Vorschläge zur Zukunft der Rente oder zum Mindestlohn. Gefällt Ihnen das?

Heil: Olaf Scholz ist ein guter Finanzminister, und er unterstützt mich stark in meiner Arbeit.

Scholz will zwölf Euro Mindestlohn. Wann soll dieser Wert erreicht sein?

Heil: Erst einmal steigt der Mindestlohn von 8,84 Euro in zwei Schritten auf 9,35 Euro im Jahr 2020. Das ist gut so. Aber: Der Mindestlohn muss nach 2020 schnell weiter steigen. Zwölf Euro sind ein realistischer Wert. Das ist eine vernünftige Lohnuntergrenze.

Klar ist aber auch: Der Mindestlohn darf nur die absolute Untergrenze sein. Wenn wirklich weniger Menschen im Niedriglohnbereich arbeiten sollen, muss der Stundenlohn höher sein. Das geht nur, wenn es mehr Unternehmen gibt, in denen Tarifverträge gelten.

Muss sich das Verfahren zur Festlegung des Mindestlohns ändern? Derzeit verhandeln Arbeitgeber und Gewerkschaften darüber.

Heil: Das Verfahren, nach dem der Mindestlohn angepasst wird, gilt. Ich habe den gesetzlichen Auftrag, diesen Mechanismus im Jahr 2020 zu überprüfen. Ich teile auch das Ziel, schneller zu einem höheren Mindestlohn zu kommen.

Das heißt, mit dem jetzigen Mechanismus dauert es Ihnen zu lange, bis zwölf Euro erreicht sind?

Heil: Wir müssen den Mechanismus überprüfen. Zu dieser Prüfung gehört aber mehr. Wir müssen auch schauen, wie der Mindestlohn eingehalten wird. Der beste Mindestlohn nützt nichts, wenn er ausgetrickst oder unterlaufen wird. Die meisten Unternehmen halten sich an die Regeln. Es gibt aber welche, die unterlaufen den Mindestlohn. Wir müssen die Kontrollen verstärken.