Wiesbaden. Die CDU erleidet bei der Hessen-Wahl schwere Verluste, bleibt aber stärkste Kraft. Die SPD hadert mit sich, die Grünen jubeln erneut.

Als der schwarze Balken auf den großen Bildschirmen erst nach oben steigt und dann doch schnell stehen bleibt, verzieht Petra Roth ihr Gesicht. Die Augen werden zu Schlitzen, die Falten um den Mund tiefer, die Winkel gehen nach unten. Als hätte Roth in eine Zitrone gebissen. Der schwarze Balken zeigt das Wahlergebnis ihrer Partei, der CDU. Die Verluste sind enorm.

Roth ist CDU-Urgestein in Hessen, regierte fast zwei Jahrzehnte als Oberbürgermeisterin in Frankfurt. Auch sie ist an diesem Abend zur Wahlparty der CDU in den fünften Stock in einem Gebäude des Hessischen Landtags in Wiesbaden gekommen. Die Partei hat ­Cocktailtische aufgebaut, 200 andere Politiker und Anhänger der Konservativen sind gekommen. Es gibt Bier und Fleischhappen, auf den Tischen liegt ein Snack, Trockenobst in einer Plastiktüte. „Damit Hessen stark bleibt“ ist da als Slogan zu lesen. Darunter das Gesicht von Volker Bouffier. Er lacht. Zumindest hier auf der Plastiktüte.

Der Absturz der CDU kommt nicht überraschend. Die Umfragen der vergangenen Wochen haben es prognostiziert. Mit jedem Zoff der großen Koalition in Berlin, mit jedem Zwist zwischen Merkel, Nahles und Seehofer sanken auch die Werte der Parteien in Hessen. Wenn es an den Cocktailtischen der CDU-Wahlparty einen Tenor gibt, dann diesen: Für das schlechte Ergebnis tragen die in Berlin die Schuld. Nicht die Hessen-CDU. Nicht Volker Bouffier.

Die CDU hatte zwischendurch Schlimmeres befürchtet

Und dann, kurz nach 18 Uhr, applaudieren sie hier im fünften Stock doch noch. Der Moderator der Live-Übertragung im Fernsehen trägt vor, für welche Regierung es reichen könnte nach den ersten Hochrechnungen. Die schwarzen und die grünen Balken reichen knapp über die Mitte. Auch wenn es nur Millimeter sind und sich alles noch ändern kann: Erleichterung. Alles bleibt, wie es war. Mit Glück jedenfalls. „Es sieht so aus, als könnte Volker Bouffier gemeinsam mit den Grünen weiterregieren“, sagt der Moderator. Applaus. Es hätte ja alles viel schlimmer kommen können.

Eine halbe Stunde nach den ersten Hochrechnungen kommt auch Bouffier in den Saal. Kein Jubel, eher erleichterter Applaus auch jetzt. „Es ist ein Abend zwiespältiger Gefühle“, sagt Bouffier, neben ihm seine Frau Ursula. „Aber das Ergebnis zeigt: Es lohnt sich zu kämpfen. Wir haben unsere beiden Ziele erreicht: Wir sind stärkste Fraktion im neuen Landtag, und es gibt keine Regierungsmehrheiten ohne die CDU.“ Ab Montag wolle er die anderen Parteien zu Gesprächen für eine Koalition einladen. Mit wem, sagt er nicht. Aber klar ist: Am liebsten alleine mit den Grünen.

Bouffier will mit Worten Klarheit schaffen, wo noch vieles im Vagen ist. „Trotzdem ist das gut“, sagt auch Ex-Bürgermeisterin Roth. „Hauptsache, Bouffier bleibt Ministerpräsident.“ Sonst will sie lieber nichts sagen. Später am Abend lassen Hochrechnungen Schwarz-Grün fraglich erscheinen. Eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP wird wahrscheinlicher, auch ein Bündnis aus CDU und SPD scheint rechnerisch möglich oder eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP.

Die Grünen sind die Sieger dieser Hessen-Wahl

Applaus für Bouffier. Jubel aber gibt es an einem anderen Ort: auf der Wahlparty der Grünen, nur ein paar Treppen hinunter, in einem anderen Haus des Hessischen Landtags. Die Partei des bisherigen Vizeregierungschefs Tarek Al-Wazir hat im Vergleich zur Wahl 2013 deutlich dazugewonnen, vielleicht überholen sie am Ende sogar die SPD.

Der Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir nach Bekanntgabe der Hochrechnungen.
Der Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-Wazir nach Bekanntgabe der Hochrechnungen. © dpa | Uwe Anspach

Die Grünen sind die Sieger dieser Hessen-Wahl. Es ist erst zwei Wochen her, da holte die Partei ihren größten Erfolg in Bayern. Der Triumph verpasste auch den Wahlkämpfern in Hessen einen Schub. Alle berichten über das neue grüne Selbstbewusstsein. Die Sympathie kommt ihnen entgegen – sie müssen sich nicht einmal sonderlich anstrengen, so wirkt es jedenfalls.

Während SPD und CDU klagen über die miese Stimmung in Berlin, freuen sich die Grünen über ihre Parteichefs. „Klar, Robert Habeck hat uns Rückenwind gegeben“, sagt ein mittelaltes Parteimitglied auf der Wahlparty. Dann gießt er sich Wein nach. Die Grünen haben an den Wänden hier in den Räumen des Landtags Lampen aufgestellt. Alles leuchtet grün. „Hessen wird grüner“, sagen sie. Sie meinen nicht nur die Deko.

Schäfer-Gümbel macht Berlin für Wahlschlappe verantwortlich

Eine herbe Niederlage müssen die SPD und ihr Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel einräumen. „Das ist bitter – und da gibt’s auch nichts dran herumzudeuteln“, sagt er. Die SPD habe die Kompetenz für Themen wie Wohnen und Schulen zugeschrieben bekommen, aber dennoch das Rennen verloren. „Gegen einen übermächtigen Bundestrend“, sagt der SPD-Politiker.

Später, nach den Fernsehduellen, läuft er rüber ins Lokal, wo die Sozialdemokraten ihre Wahlparty feiern. Viele sind noch da, klopfen Schäfer-Gümbel auf die Schultern, umarmen ihn, loben ihn. Trotz allem. Die SPD-Anhänger nicken ihm zu, im Fernsehen habe es „TSG“ auf den Punkt gebracht. „Wir haben nicht nur keinen Rückenwind aus Berlin erhalten, sondern wir hatten regelmäßig Sturmböen im Gesicht.“

Berlin. Dorthin zeigen alle in Hessen an diesem Abend: CDU und SPD allen voran. Schicksalswahl für die GroKo in Berlin. Für Merkel. Für Nahles. Sogar für das ganze Schicksal der Volksparteien. Bouffier und Schäfer-Gümbel mussten hier in Hessen auch für ihre Chefs in Berlin kämpfen – und wollten das doch am liebsten vermeiden.

Schäfer-Gümbel: Ein schwerer und bitterer Abend für die hessische SPD

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    In den vergangenen Tagen wurde die CDU noch mal in alte Zeiten großer Grabenkämpfe katapultiert. Bouffier warnte vor dem „Linksruck“. CDU-Chefin Merkel stimmte in den Chor ein. Bloß keine Koalition aus Grünen, SPD und Linken. Bouffiers Tenor: Wer nicht CDU wählt, bekommt links. Er nannte eine solche Regierung eine „Katastrophe“. Geht Bouffiers Taktik auf? Wenn nicht, muss er sich neben den Grünen weitere Partner suchen.

    Geht es nach Bouffier, ist diese zweite Option: Jamaika, ein Bündnis der CDU mit Grünen und FDP. Für die CDU wäre es die stabilste Mehrheit im Landtag. Die Liberalen wären Rettungsanker für eine Neuauflage des Duos Bouffier und Al-Wazir. Der hessische FDP-Spitzenkandidat René Rock ist jedenfalls offen für ein Jamaika-Regierungsbündnis . „Ja, wir würden sondieren und wollen gucken, ob wir es hinbekommen“, sagt er im ZDF. Dafür soll Schleswig-Holstein Vorbild sein. Dort regiert CDU-Mann Daniel Günther mit den Grünen und der FDP: konservativ, aber auch weltoffen.

    Die Mehrheiten in Hessen waren immer knapp. Schon in den 80ern ließen sich SPD-Regierungen von den Grünen tolerieren. Knappe Verhältnisse zwingen zur Ordnung. Die Geschichtsbücher nennen Hessen das Labor deutscher Politik. Hier hob Joschka Fischer in Turnschuhen seine Hand zum Eid als erster grüner Umweltminister. 1985 formierte sich damit die erste rot-grüne Regierung Deutschlands. Jetzt experimentierte Hessen für fünf Jahre mit einer neuen Farbmischung: Schwarz-Grün.

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    Volker Bouffier (CDU), Ministerpräsident von Hessen, lässt sich trotz großer Verluste neben seiner Ehefrau Ursula von den Anhängern der CDU feiern. Bouffier sagte später, seine Partei hätte ihre Wahlziele erreicht. © dpa | Boris Roessler
    Die Spitzenkandidaten Priska Hinz und Tarek Al-Wazir von den Grünen mit der Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock waren in Jubellaune. Sie haben in Hessen deutlich zugelegt.
    Die Spitzenkandidaten Priska Hinz und Tarek Al-Wazir von den Grünen mit der Bundesvorsitzenden Annalena Baerbock waren in Jubellaune. Sie haben in Hessen deutlich zugelegt. © dpa | Uwe Anspach
    Partystimmung auch in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Berlin: Michael Kellner, Katrin Göring-Eckardt, Robert Habeck und Claudia Roth feierten das beste Ergebnis, das die Grünen in Hessen jemals erzielt haben.
    Partystimmung auch in der Bundesgeschäftsstelle der Grünen in Berlin: Michael Kellner, Katrin Göring-Eckardt, Robert Habeck und Claudia Roth feierten das beste Ergebnis, das die Grünen in Hessen jemals erzielt haben. © dpa | Arne Immanuel Bänsch
    Die SPD um Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel muss sich nach der Wahl in Bayern nun auch in Hessen geschlagen geben. Er habe aus Berlin nicht nur keinen Rückenwind bekommen, sagte Schäfer-Gümbel, es hätten ihm sogar starke Böen ins Gesicht geweht.
    Die SPD um Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel muss sich nach der Wahl in Bayern nun auch in Hessen geschlagen geben. Er habe aus Berlin nicht nur keinen Rückenwind bekommen, sagte Schäfer-Gümbel, es hätten ihm sogar starke Böen ins Gesicht geweht. © dpa | Arne Dedert
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    „Es muss sich in der SPD etwas tun“, kündigte die sichtlich getroffene SPD-Chefin Andrea Nahles an. Sie stellte auch die Zukunft der GroKo in Frage. „Der Zustand der Bundesregierung ist nicht akzeptabel.“ © dpa | Kay Nietfeld
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    Die AfD stößt gemeinsam auf den Wahlerfolg an: Die Partei ist zum ersten Mal im hessischen Landtag vertreten. © dpa | Frank Rumpenhorst
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    Rene Rock und seine FDP konnten sich ebenfalls freuen. Sie ziehen erneut in den Landtag ein und können möglicherweise sogar mitregieren. © dpa | Silas Stein
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    Janine Wissler und Jan Schalausken, Spitzenkandidaten der Linken, wurden mit Applaus von ihren Kollegen empfangen. Ihre Partei legte laut den ersten Hochrechnungen leicht zu. © dpa | Thomas Frey
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