Berlin. Der Rückzug von Bundeskanzlerin Merkel vom CDU-Vorsitz entzündet bei den Sozialdemokraten die Debatte um die Regierungsbeteiligung neu.

Mittwochnachmittag, um kurz nach 17 Uhr: In ganz Deutschland brummen und klingeln Mobiltelefone. Wer auf dem Nachrichtendienst Whats­App den „Koa-Chat“ der SPD abonniert hat, hat gerade eine Nachricht von Lars Klingbeil bekommen, dem SPD-Generalsekretär. „Moin Leute, Lars hier“, schreibt er. „Bei uns in der SPD muss sich einiges ändern – und zwar radikal.“

Klingbeil verweist dann auf einen neuen Text, den er geschrieben hat. Der Titel: „Eine neue SPD wird gebraucht“. Die Partei müsse deutlich machen, wohin sie wolle, heißt es darin unter anderem. Und dass man „nicht jede Debatte der Regierungslogik unterordnen“ müsse.

Übersetzt heißt das: Lasst uns über das Programm der SPD reden, aber lasst uns bitte in der Regierung bleiben.

Nach der Merkel-Sensation ist die SPD-Spitze hoch nervös

Wie lange kann sich SPD-Chefin Andrea Nahles noch halten?
Wie lange kann sich SPD-Chefin Andrea Nahles noch halten? © Getty Images News/Getty Images | Getty Images

Am Tag drei nach dem politischen Beben, das

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ausgelöst hat, ist die SPD-Spitze hoch nervös. Um jeden Preis will sie verhindern, dass die Gegner der großen Koalition in den eigenen Reihen eine Diskussion anzetteln, die am Ende nicht mehr zu kontrollieren wäre und im Bruch des Regierungsbündnisses und in Neuwahlen enden könnte.

Auch Personaldebatten würde die SPD-Spitze jetzt gern vermeiden. Die Frage, ob

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steht dennoch im Raum. Am kommenden Sonntagabend und am Montag wollen führende Sozialdemokraten auf einer Klausurtagung darüber beraten, wie es weitergehen soll – in der Partei und in der Koalition.

Der Juso-Chef wird als Parteichef vorgeschlagen

Ausgerechnet Peer Steinbrück ist es, der diese Frage am Mittwoch aufwirft. In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ überrascht der frühere Bundesfinanzminister nicht nur mit betont linken Thesen. Er verkündet auch die Überzeugung, die SPD brauche an ihrer Spitze „eine Person wie

nur 30 Jahre jünger“.

Gemeint ist damit der amerikanische Senator, der bei der Präsidentenwahl in den USA vor zwei Jahren mit explizit linken Thesen antrat, aber noch in den internen Vorwahlen der Demokraten gegen Hillary Clinton verlor. Steinbrück, der als Kanzlerkandidat mit eher konservativem Image 2013 nur 25,7 Prozent für die SPD holte, griff damit zwar nicht explizit Parteichefin Nahles an. Aber es war klar, wer gemeint ist.

Juso-Chef Kevin Kühnert sagt, er habe kein Interesse an dem Partei-Vorsitz.
Juso-Chef Kevin Kühnert sagt, er habe kein Interesse an dem Partei-Vorsitz. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Außer Steinbrück wagt sich bisher nur der neue SPD-Fraktionschef im bayerischen Landtag, Horst Arnold, auf das Feld der Personaldebatte. Nahles solle Platz machen für

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hat er dem „Münchner Merkur“ gesagt. Kühnert könne Konflikte austragen ohne zu verletzen und habe „ausgewogene Kritik an der GroKo“ geäußert. Der 29-Jährige habe das Format für einen Parteivorsitzenden. „Ein solcher Schritt wäre ein echtes Zeichen“, meint Arnold.

Mattheis macht einen Bogen um Parteichefin Nahles

Allerdings hat er dabei übersehen, dass Kühnert selbst keine Lust auf den Job hat und auch keine Notwendigkeit für einen Wechsel an der SPD-Spitze sieht: „Wir haben so viel Personal gewechselt in den letzten Jahren und das allein hat uns nicht weitergebracht“, äußerte dieser bereits bei einem Fernsehauftritt am Dienstag in der ARD. „Wir müssen jetzt erst mal ein paar inhaltliche Konflikte klar ziehen in der SPD.“

Auch andere Kritiker der Koalition mit CDU und CSU agieren derzeit vorsichtig und vermeiden noch allzu offene Kritik: „Die Frage nach neuem Personal an der Spitze ist nie die erste Frage“, sagt zum Beispiel Hilde Mattheis unserer Redaktion. Die Vorsitzende des Forums „Demokratische Linke 21“ in der SPD, die wie Kühnert gegen die GroKo kämpfte, mahnt, die SPD muss an ihren Themen und politischen Inhalten arbeiten. „Wenn das nicht mit der SPD-Spitze geht, dann muss es ohne sie gehen.“ Auch Mattheis macht – zumindest rhetorisch – noch einen Bogen um Parteichefin Nahles und ihre Mitstreiter wie Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz.

Andrea Nahles: Ihre Karriere in Bildern

Andrea Nahles war lange die starke Frau der SPD: Seit April 2018 war sie Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – als erste Frau. Seit September 2017 war sie bereits Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Von beiden Ämtern wird sie zurücktreten, wie sie am Sonntag ankündigte. Wir zeigen Bilder aus ihrem politischen und privaten Leben.
Andrea Nahles war lange die starke Frau der SPD: Seit April 2018 war sie Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands – als erste Frau. Seit September 2017 war sie bereits Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag. Von beiden Ämtern wird sie zurücktreten, wie sie am Sonntag ankündigte. Wir zeigen Bilder aus ihrem politischen und privaten Leben. © dpa | Martin Gerten
Andrea Nahles wurde am 20. Juni 1970 in Mendig (Rheinland-Pfalz) geboren. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaften und ist seit 1988 Mitglied der SPD. Von 1993 bis 1995 war sie Landesvorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland Pfalz. Von 1995 bis 1999 dann Bundesvorsitzende der Jusos.
Andrea Nahles wurde am 20. Juni 1970 in Mendig (Rheinland-Pfalz) geboren. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaften und ist seit 1988 Mitglied der SPD. Von 1993 bis 1995 war sie Landesvorsitzende der Jungsozialisten in Rheinland Pfalz. Von 1995 bis 1999 dann Bundesvorsitzende der Jusos. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Andreas Altwein
Andrea Nahles und der damalige SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine im November 1996.
Andrea Nahles und der damalige SPD-Bundesvorsitzende Oskar Lafontaine im November 1996. © REUTERS /
Nahles war erstmals von 1998 bis 2002 und ist erneut seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1997 bis 2013 war sie Mitglied im SPD-Parteivorstand.
Nahles war erstmals von 1998 bis 2002 und ist erneut seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages. Von 1997 bis 2013 war sie Mitglied im SPD-Parteivorstand. © REUTERS /
Im Mai 2007 wurde Nahles gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier (M.) und Peer Steinbrück vom SPD-Parteivorstand für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden nominiert. Am 26. Oktober 2007 wurde sie von 74,8 Prozent der Parteitagsdelegierten in dieses Amt gewählt. Dafür gab es rote Rosen. Das Amt hatte sie von 2007 bis 2009 inne.
Im Mai 2007 wurde Nahles gemeinsam mit Frank-Walter Steinmeier (M.) und Peer Steinbrück vom SPD-Parteivorstand für das Amt der stellvertretenden Parteivorsitzenden nominiert. Am 26. Oktober 2007 wurde sie von 74,8 Prozent der Parteitagsdelegierten in dieses Amt gewählt. Dafür gab es rote Rosen. Das Amt hatte sie von 2007 bis 2009 inne. © Getty Images | Sean Gallup
Die praktizierende Katholikin ist Mutter einer Tochter.
Die praktizierende Katholikin ist Mutter einer Tochter. © Meike Boeschemeyer
Von ihrem Ehemann – dem Kunsthistoriker Marcus Frings – lebt sie seit Anfang 2016 getrennt.
Von ihrem Ehemann – dem Kunsthistoriker Marcus Frings – lebt sie seit Anfang 2016 getrennt. © Getty Images | Sean Gallup
Am 17. Dezember 2013 wurde Nahles von dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt.
Am 17. Dezember 2013 wurde Nahles von dem ehemaligen Parlamentspräsidenten Norbert Lammert zur Bundesministerin für Arbeit und Soziales vereidigt. © REUTERS | REUTERS / THOMAS PETER
Im Bundestagswahlkampf 2017 machte Nahles sich für den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz stark.
Im Bundestagswahlkampf 2017 machte Nahles sich für den damaligen Kanzlerkandidaten Martin Schulz stark. © Getty Images | Carsten Koall
Seit dem 27. September 2017, drei Tage nach der Bundestagswahl, ist Andrea Nahles Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion.
Seit dem 27. September 2017, drei Tage nach der Bundestagswahl, ist Andrea Nahles Vorsitzende der SPD-Bundesfraktion. © dpa | Bernd von Jutrczenka
Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 7. Februar gab Schulz seinen Rücktritt vom Parteivorsitz bekannt – und machte den Weg für Andrea Nahles als seine Nachfolgerin frei.
Nach dem Ende der Koalitionsverhandlungen am 7. Februar gab Schulz seinen Rücktritt vom Parteivorsitz bekannt – und machte den Weg für Andrea Nahles als seine Nachfolgerin frei. © dpa | Kay Nietfeld
Es war kein starkes Ergebnis – nur gut 66 Prozent stimmten beim Parteitag am 22. April 2018 für Andrea Nahles als Parteivorsitzende.
Es war kein starkes Ergebnis – nur gut 66 Prozent stimmten beim Parteitag am 22. April 2018 für Andrea Nahles als Parteivorsitzende. © dpa | Bernd von Jutrczenka
Damit war Andrea Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD. Am Sonntag kündigte sie ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende für den 3. Juni 2019 und als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende am 4. Juni 2019 an. Außerdem wurde bekannt, dass Nahles in naher Zukunft auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich komplett aus der Politik zurückziehen will.
Damit war Andrea Nahles die erste Frau an der Spitze der SPD. Am Sonntag kündigte sie ihren Rücktritt als SPD-Vorsitzende für den 3. Juni 2019 und als SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende am 4. Juni 2019 an. Außerdem wurde bekannt, dass Nahles in naher Zukunft auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich komplett aus der Politik zurückziehen will. © Reto Klar | Reto Klar
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Ende der Koalition würde eine Neuwahl des Bundestags bedeuten

In der Sache ist auch Mattheis nach den jüngsten Wahlergebnissen überzeugt, dass die SPD ihr politisches Profil schärfen müsse. Sie geht aber noch weiter und erläutert: „Die SPD muss raus aus der großen Koalition. Die Geschäftsgrundlage für diese Koalition ist durch die

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entfallen.“ Die Parteispitze müsse nun „ein Szenario für einen Ausstieg“ aus der Koalition entwerfen.

Da ist sie also, die Debatte, die Generalsekretär Klingbeil und auch Parteichefin Nahles gern in geordnete Bahnen lenken würden – und zunächst vor allem weg von der Frage, ob die SPD in der Regierung bleiben wird. Ein Ende der Koalition würde wohl eine Neuwahl des Bundestags bedeuten, das hat CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer vor einer Woche signalisiert. Die SPD würde dabei kaum gut abschneiden. GroKo-Kritikerin Hilde Mattheis meint deshalb, ihre Partei könne die Regierung auch ohne Neuwahlen verlassen: „Länder wie Spanien und Dänemark zeigen, dass auch Minderheitsregierungen erfolgreich sein können.“

Natascha Kohnen fuhr in Bayern eine krachende Niederlage ein

„In der großen Koalition können wir keine rote Linie aufzeigen“, begründet Mattheis ihre Haltung. „Wir sind gefangen in den Kompromissen der Regierung.“ Die deutsche Gesellschaft drifte auseinander und die Wähler glaubten der SPD nach der dritten großen Koalition nicht mehr, dass die Sozialdemokraten wirklich Grundlegendes gegen die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten unternehmen würden.

Ähnlich sieht dies auch Vizeparteichefin Natascha Kohnen. Nachdem sie selbst als Spitzenkandidatin in

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eingefahren hatte und nachdem auch die Wahl in Hessen verloren ging, sagte Kohnen: „Wenn es nicht gelingt, klar zu positionieren, wer wir sind, bei Einwanderungsgesetz, Rente oder Mietenpaket, dann macht die große Koalition in meinen Augen keinen Sinn mehr.“ Wenn die Union wichtige Projekte der SPD blockiere, müsse das Bündnis beendet werden.

Die Botschaft, die Kohnen nach Berlin schickt: Die Bundes-SPD ist schuld am Ausgang der Landtagswahlen. Deren unklare Haltungen beim Thema Migration und das Mittragen des faulen

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mit der Autoindustrie habe den Wahlkämpfern im Süden geschadet. Auch die Genossen in Hessen haben erklärt, sie hätten beim Wahlkampf in ihrem Bundesland alles richtig gemacht. Schuld sei die Bundespolitik.

Wird geräuschlose Regierungsarbeit die SPD beruhigen kann?

Parteichefin Andrea Nahles wird in den nächsten Tagen alles unternehmen, um diese Angriffe abzuwehren. In der Bundestagsfraktion verweist man darauf, dass die Koalition doch reibungslos arbeite. Das sei gerade in der nächsten Woche wieder zu besichtigen, wenn jede Menge sozialdemokratische Themen auf der vollgepackten Tagesordnung des Bundestags stünden, darunter das Rentenpaket, mit dem stabile Beiträge für die nächsten Jahre beschlossen werden sollen, bis hin zum „Teilhabechancengesetz“, mit dem Langzeitarbeitslose auf dem zweiten Arbeitsmarkt eine Aufgabe finden sollen.

„Es bringt in dieser polarisierten Zeit wenig, recht zu haben oder sich im Recht zu fühlen“, ermahnt Generalsekretär Klingbeil die GroKo-Kritiker. „Es geht darum, in dieser Gesellschaft gemeinsam Fortschritt und Zusammenhalt zu organisieren.“ Offen ist, ob geräuschlose Regierungsarbeit die SPD wirklich noch beruhigen kann.