Brüssel/Berlin. Frankreichs Präsident Macron bestimmt mit seinem Euro-Vorstoß die Agenda. Er bekommt dafür Beifall aus Brüssel und von Südländern.

Geplant war ein lockeres „Get-together“ vor dem Digitalgipfel am Freitag. Keine Tagesordnung, keine Presse, keine Beschlüsse: So hatte der estnische Ratsvorsitz das Treffen der 28 Staats- und Regierungschefs der EU in der Hauptstadt Tallinn angekündigt. Ganz ungezwungen sollten Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihre Kollegen beim Abendessen über die Zukunft der Union plaudern.

Doch als Merkel am Donnerstagabend in Tallinn ankam, stand sie unter Druck. Ihr steckte nicht nur die Wahlschlappe vom Sonntag und der Aufstieg der AfD in den K

ochen, der in ganz Europa mit Sorge beobachtet wird. Die Kanzlerin sollte auch, so Ratspräsident Donald Tusk in seinem Einladungsbrief, „Führung“ zeigen und die EU-Reformagenda vorantreiben. Keine leichte Übung, denn diesmal gibt nicht wie gewohnt die deutsche Kanzlerin den Ton an. Es ist vielmehr eine Art Feuertaufe: Wie hält es Merkel mit mehr Europa?

Angela Merkel dämpft zu große Erwartungen

Während sie daheim in Berlin noch um eine neue Regierungskoalition kämpfen muss, hat sich in Paris bereits Präsident Emmanuel Macron die Pole-Position gesichert. Mit seiner europapolitischen Grundsatzrede erhebt der französische Staatschef einen klaren Führungsanspruch. Die Kanzlerin warf denn auch prompt die Planung für Tallinn um. Sie wollte sich noch vor Beginn des Abendessens mit Macron treffen, um über dessen hochfliegende Pläne zu reden.

Ein Euro-Finanzminister, ein Euro-Budget in dreistelliger Milliardenhöhe, ein Verteidigungsetat und eine Asylpolitik für die Eurozone, eine neue Agrarpolitik – das sind nur einige der vielen Stichwörter, die der liberale Franzose in die Reform-Debatte geworfen hat. Auch eine gemeinsame Aufnahme von Schulden brachte er ins Gespräch. Doch Merkel hat es mit Blick auf die schwierigen Sondierungsgespräche über die Bildung einer Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen überhaupt nicht eilig. Zwar lobte sie über ihren Regierungssprecher Steffen Seibert den „Elan“ und die „Leidenschaft“ Macrons, dämpfte aber zu große Erwartungen mit dem Hinweis: „Es kommt immer auf die konkrete Ausgestaltung an.“

Luxemburgs Außenminister Asselborn appelliert an Merkel

Dagegen witterten die Südeuropäer, die jahrelang die im Maastricht-Vertrag festgeschriebenen Defizitgrenzen überschritten hatten, auf einmal Morgenluft. „Jetzt ist die Zeit des Ehrgeizes gekommen“, schwärmte Italiens Ministerpräsident Paolo Gentiloni. Aus Spanien kam ebenfalls Zustimmung. Griechenlands Premier Alexis Tsipras trommelt seit einiger Zeit für einen Schuldenschnitt und wird dabei auch vom Internationalen Währungsfonds (IWF) unterstützt. Auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker pries den französischen Staatschef. Macrons Rede sei „sehr europäisch“ gewesen.

Und Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn appellierte an Merkel: „Man erwartet in Europa, dass auch eine Rede aus Deutschland kommt, die nicht europapolitisch zerknirscht ist, sondern nach vorne zeigt.“ Allerdings sind nicht alle begeistert von Macrons Aufschlag. Die Osteuropäer fürchten, an den Rand gedrängt zu werden, wenn die Eurozone – wie in Paris geplant – zum harten Kern der EU ausgebaut wird.

Lindner will einen ausgeglichenen Haushalt

Die Niederländer und Skandinavier fremdeln mit den Plänen für ein „souveränes Europa“, das nicht mehr auf Freihandel und Wettbewerb, sondern auf Steuerharmonisierung und Umverteilung setzt. Ihnen ist Macrons Vision nicht liberal genug. Genau wie der FDP in Deutschland, die einem üppigen Euro-Budget bereits eine Absage erteilt hat. Liberalenchef Christian Lindner forderte eine Rückkehr zur „alten stabilitätsorientierten“ Linie. Also: ausgeglichener Haushalt, Strukturreformen zur Entlastung von Unternehmen. „Europa wird nicht dadurch stärker, dass wir weitere Geldtöpfe aufmachen, die den Anreiz für solide Haushaltspolitik schmälern“, betonte Alexander Graf Lambsdorff (FDP), Vizepräsident des EU-Parlaments.

Macron ist sich dessen offenbar bewusst. „Wenn sich Merkel mit den Liberalen verbündet, dann bin ich tot“, soll er vor der Bundestagswahl gesagt haben. Denn seine politische Zukunft hängt ganz entscheidend vom Erfolg in Europa ab. Deshalb versucht der Franzose nun, Merkel zu umarmen, noch bevor sie ein Regierungsbündnis mit der FDP und den Grünen schmiedet.

Ratspräsident Tusk drückt aufs Tempo

Dabei spielen Macron auch Juncker und Tusk in die Hände. Kommissionschef Juncker fordert nämlich auch weitreichende EU-Reformen – sogar der „Euro für alle“ steht auf seinem Programm. Gleichzeitig drückt Ratspräsident Tusk aufs Tempo. Bereits im Dezember will Tusk auf einem Sondergipfel über die Zukunft der Eurozone verhandeln. Im neuen Jahr soll dann die EU-Reform eingeleitet werden, spätestens im Frühsommer 2018 soll alles unter Dach und Fach sein.

Denn im Herbst nächsten Jahres, so die Sorge in Brüssel, schließt sich das „Fenster der Gelegenheit“ schon wieder. Dann gehen die Verhandlungen über den britischen EU-Austritt in die Endphase – keine gute Zeit für Reformen. In Tallinn sollte daher der Kalender festgezurrt werden. Allerdings stand alles unter dem Vorbehalt, dass die deutsche Regierungsbildung zügig voranschreitet. Bis Ende November hat Merkel noch Zeit, um die Vorgaben von Tusk, Juncker und Macron zu erfüllen. Ein fast utopischer Zeitplan. Sollte es länger dauern, wird den eiligen Reformern wohl nichts anderes übrig bleiben, als auf die Kanzlerin zu warten.